dieter baumann über Laufen
: Sprung ins Morgengrauen

Trainieren und kleine Vögel retten – für beides zugleich sind Wintertage eindeutig zu kurz

An diesem Morgen begann alles mit großen Sprüngen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen – da hatte sich unsere Katze ihrem Opfer raubtiergleich langsam und auf leisen Pfoten genähert. Der kleine Vogel hackte im gefrorenen Boden nach Essbarem, er wiegte sich offenbar in Sicherheit. Plötzlich der Sprung, der Schatten unserer Katze über dem Vogel. Der flatterte in Todesangst los – zu spät. Die Katze packte zu.

Es war weit unter null Grad. Nach wochenlangem Dauerregen im November herrschte jetzt Dauerfrost. Aber was hilft es, wir Läufer müssen raus. Keine günstigen Bedingungen für meinen Berufsstand. Die Tage waren jetzt nur noch kalt, und vor allem sehr kurz. Der Laufprofi hat es doch schön, denken viele. Aber gerade im Winterhalbjahr wird die Zeit knapp, um meine zwei Laufeinheiten in dem kurzen Tag unterzubringen. „Zeitmanagement“ scheint in diesen Zeiten das Schlüsselwort. Der Ausdruck „Zeitregiment“ scheint mir allerdings passender. Dieses richtet sich in meinem Fall nicht nach den günstigsten Zeiten des Tages, wie es sich vermuten ließe. Nein, einerseits richtet es sich nach meinen Trainingskollegen, laufenden Studenten oder studierenden Läufern. Unentwegt scheinen sie von Vorlesung zu Vorlesung zu eilen, zu Kolloquien und Seminaren. Eine unentwegte Hatz auf dem Weg zur beruflichen Karriere. „Bei mir geht es nur morgens um acht“, bekomme ich oft zu hören. Meine Laufkollegen waren allerdings nicht der Hauptgrund für mein striktes Zeitregiment – sondern meine beiden Kinder. Rechtzeitig vor Trainingsbeginn musste ich unsere „Minis“ aus dem Haus bringen. Das bedeutet: gewaschen und gestriegelt, gefrühstückt, angezogen und mit Pausenvesper bewaffnet um sieben Uhr fünfundvierzig abmarschbereit.

Fast zeitgleich wie unsere Katze auf den Vogel sprang ich an diesem Morgen aus dem Bett. Vielleicht nicht ganz so geschmeidig. Natürlich hatte ich keine Ahnung vom Überlebenskampf des kleinen Vogels draußen im Garten. Es war noch dunkel, aber mit den frühen Trainingszeiten konfrontiert, musste ich mich vorbereiten. Alles lief nach Plan, kein Gebummel am Waschbecken, kein Gemaule beim Frühstück. Nur noch fünf Minuten bis zum Aufbruch, nur noch die Schuhe zubinden. Wo waren meine Laufhandschuhe? Oben am Heizkörper? Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich nach oben.

Zur selben Zeit legte unser hauseigenes Raubtier im Flur sein gefiedertes Opfer auf den Teppich und schlug mit den Pfoten so lange auf den kleinen Vogel ein, bis er in einer Ecke unter der Garderobe verschwand. Er piepte ängstlich. „Papa!“ – der Schrei meines Sohnes verhieß nichts Gutes. Wo waren bloß die Laufhandschuhe? „Papa!“ – es war ein Notschrei, ich konnte es hören. Bei minus zehn Grad ohne Handschuhe? Unmöglich. Ich spurtete in den Flur und sah, wie mein Sohn wie eine schützende Mauer zwischen unserer Katze und dem Vogel lag. „Du musst ihn retten!“, flehte mein Sohn. Was heißt hier retten, wir kommen zu spät!, wollte ich sagen. Der Sinnlosigkeit dieses Satzes war ich mir wohl bewusst. Ängstlich saß der kleine Vogel unter der Garderobe, und mein Sohn redete auf ihn ein, so als wollte er sagen: „Alles wird gut.“ Mir befahl er, den alten, verrosteten Vogelkäfig aus dem Keller zu holen. „Dann kann die Katze ihn nicht mehr bekommen“, stellte er fest. – „Ich muss ins Training.“ Das war der falsche Satz. – „Dann stirbt er!“ – mein Sohn war den Tränen nahe. Der Vogelkäfig, wo war bloß der Vogelkäfig? Im Laufschritt machte ich mich in den Keller. Nirgendwo war der Käfig zu sehen. Dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte ihn im Garten gesehen. Wieder zurück und raus. Ich wusste, ich kam zu spät zum Training. Endlich der Vogelkäfig. „Wir bringen ihn ins Badezimmer. Da kommt die Katze nicht hin“, schlug ich außer Atem vor. Mein Sohn war jetzt ganz ruhig: „Der hat sicherlich Hunger“, stellte er fest, „der braucht Futter.“ Diskutieren war hier zwecklos. Wieder raste ich hinaus. Irgendwo in einem Baum musste doch die neue Meisenkugel hängen.

Meine laufenden Studenten oder studierenden Läufer, wie auch immer, würden mich ganz schön zusammenfalten. Was müssen die sich auch für jede Veranstaltung einschreiben. „Karrieristen!“, fluchte ich.

In der Zwischenzeit hatte sich mein Sohn auf den Weg ins Badezimmer gemacht. Ich erkannte es daran, dass der Weg dorthin mit seiner ausgezogenen Jacke, den Handschuhen, der Mütze und dem Schal gepflastert war. Der Kleine lag bäuchlings am Boden und beobachtete den Piepmatz. „Komm, wir müssen los. Ich komm zu spät.“ Fünfzehn Minuten nach acht war ich da. „Das Kolloquium rechnen die mir nicht mehr an“, maulte ein Kollege. Was sollte ich sagen? „Hört zu, meine Katze …“ Die Jungs winkten ab. Am Mittag ließ mein Sohn den kleinen Vogel wieder frei. Der hatte sich von seinem Schock erholt und flatterte vom Badezimmerfenster auf den Gartenzaun. Glückselig schaute mein Sohn hinterher.

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