Ein Drecksjob unter Christbäumen

Jedes Jahr im Dezember kommen Weihnachtsbaumverkäufer aus Kanada nach New York City und schlagen dort ihren Stand auf. Viele sind auf der Suche nach einem gut bezahlten Gelegenheitsjob. Für einige Wochen studieren sie das Leben der Straße

„In New York versucht jeder, dich übers Ohr zu hauen, da musst du hart sein“

von SEBASTIAN MOLL

Andy ist gar nicht so böse, dass es heute regnet. Er hat sich in seinen mit Müllsäcken abgedichteten Bretterverhau verzogen, in dem gerade mal Platz für einen alten, vergammelten Sperrmüllsessel und einen Radiorekorder ist, sich in eine Decke eingewickelt und liest die Zeitung. „Heute geht eh niemand raus auf die Straße, um sich einen Weihnachtsbaum zu kaufen“, sagt der 24-jährige Waldarbeiter aus Britisch-Kolumbien. „Da muss ich mich auch nicht in die Kälte stellen.“ Dann kommt aber doch noch jemand an seinen Stand an der Ecke Hudson und Christopher Street, mitten in Greenwich Village in Manhattan. Doch der Kunde interessiert sich nicht für die saftigen Tannen, die zwischen ein und vier Meter groß sind und 20 bis 250 Dollar kosten. „Bist du aus Kanada?“, fragt der Afroamerikaner, dessen adrette Kleidung ihn als Angehörigen der gut verdienenden Mittelschicht identifiziert. Andy bejaht, die Augen rollend, wissend, was jetzt folgt. „Hast du Stoff mit über die Grenze gebracht?“, fragt der Schwarze. „Ich bin doch nicht verrückt“, sagt Andy, „ich will doch in kein amerikanisches Gefängnis.“

„Das passiert hier ständig“, erzählt Andy, nachdem er den Mann wieder abgewimmelt hat. „Da habe ich mich schon dran gewöhnt.“ Andy hat seinen Stand in Greenwich Village jetzt schon im dritten Jahr. „Im ersten Jahr regt man sich über solche Sachen auf, da kriegt man richtig Angst. Aber man lernt hier schnell.“ Andy ist einer von rund 150 Weihnachtsbaumverkäufern aus Kanada, die jedes Jahr zum ersten Advent nach New York City kommen und hier ihren Stand aufschlagen. Viele sind jung, wie Andy, auf der Suche nach einem gut bezahlten Gelegenheitsjob und abenteuerlustig. „Ich arbeite im Sommer in Camps im Northern Territory“, erzählt Andy, „dort forsten wir große Waldgebiete wieder auf, die kahl gerodet wurden.“ Im Winter hatte Andy jedoch keine Arbeit und so schlug er sofort zu, als ihm ein Freund von New York erzählte und ihm eine Telefonnummer gab.

Es war die Nummer des Büros von Kevin Hammer, einem Unternehmer aus dem Staat New York. Hammer kauft im Herbst Weihnachtsbäume in großer Stückzahl von den Plantagen in Quebec und Nova Scotia auf. Dann heuert er fliegende Händler wie Andy in Kanada an, die sich vier Wochen lang, bis Heiligabend, für ihn auf die Straßen New Yorks stellen und die Bäume unters Volk bringen. „Das läuft alles auf Kommission“, erzählt Andy. Wir kaufen ihm Bäume für rund 20.000 Dollar ab und müssen sehen, dass wir sie wieder loswerden. Aber es lohnt sich, ein paar tausend Dollar nehmen wir wieder mit. Und ein US-Dollar ist in Kanada fast das Doppelte wert.“ Außerdem versteuere niemand das Geld, weder Hammer noch die Händler. Die New Yorker Regierung toleriert das halblegale Geschäft stillschweigend.

Selbst im ersten Jahr, so Andy, habe sich das gelohnt, obwohl er damals noch bitteres Lehrgeld bezahlen musste. „Ich hatte keine Ahnung, wie man Bäume verkauft. Da kam mitten in der Nacht ein Laster, kippte uns das Zeug vor die Nase, und wir mussten sehen, wie wir zurechtkommen. In New York versucht jeder, dich übers Ohr zu hauen, da musst du hart sein, das muss man erst mal lernen.“

Andy war nicht im Geringsten darauf vorbereitet, was da auf ihn zukam. „Ich hatte nicht genug Kleidung, und ich war mit dem Pkw gekommen. Vier Wochen im unbeheizten Pkw zu schlafen, das war die Hölle.“ Mittlerweile mietet er sich mit einem Kollegen zusammen ein komfortables Wohnmobil, mit Heizung und Fernseher. Die beiden wechseln sie sich in Zwölfstundenschichten ab, um das Geschäft rund um die Uhr am Laufen zu halten.

Was Andy auch auf die harte Tour lernen musste, war, dass man die Unterstützung der Nachbarschaft braucht, um überleben zu können. Direkt gegenüber von Andys Stand ist ein Polizeirevier. Am Anfang hatte er jeden Tag Ärger mit denen, wegen der Parkerlaubnis für sein Wohnmobil. Inzwischen hat er spitzgekriegt, dass er ihnen nur einen Weihnachtsbaum für das Revier stiften muss, um Ruhe zu haben. Ähnlich läuft es, was die Verpflegung angeht. Die Restaurants rundum kennen ihn mittlerweile gut, und für einen Weihnachtsbaum bekommt er vier Wochen lang eine warme Mahlzeit am Tag.

Auch das Problem der Hygiene hatte Andy im ersten Jahr einfach nicht bedacht. Um eine Toilette benutzen und sich duschen zu können, musste er für teures Geld einen Monat lang Mitglied in einem Fitnessstudio werden. Jetzt hat er von einer Stammkundin, die um die Ecke wohnt, einen Wohnungsschlüssel und darf dort das Bad benutzen. Auch sie bekommt einen Baum umsonst. „Man braucht diese Infrastruktur und die Hilfe der Leute“, sagt Andy.

Das Gleiche erzählt Luc, der nur ein paar Straßen weiter auf der Greenwich Avenue steht. Er kommt nun schon seit fünf Jahren, im Sommer ist er Animateur für Club-Urlauber in Ontario. Er steht in der Nähe des St. Vincent’s Hospital, und das Krankenhauspersonal hat ihn ins Herz geschlossen. „Das ist ein Drecksjob hier“, sagt er. „Und es tut echt gut, wenn die Leute morgens vorbeikommen, einem auf die Schulter klopfen und einem sagen, man solle durchhalten. Dann kann man das auch besser aushalten, wenn man es nachts wieder mit irgendwelchen Verrückten zu tun kriegt.“

Die Begegnungen auf der Straße, auch die unangenehmen, sind indes genau das, was Patricia sucht. Sie hat ihren Stand am Astor Place zwischen Broadway und Lafayette Street. Im Zivilleben studiert sie in Montreal Sozialarbeit. „Gestern Nacht haben ein paar Jugendliche hier eine obdachlose alte Frau verprügelt“, erzählt sie. „Ich habe der Frau geholfen, habe lange mit ihr geredet. So etwas erlebt man sonst nicht, das ist für mich wie ein Praktikum. Irgendwie sind wir ja auch Obdachlose, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. Für mich und meinen Beruf ist das eine ganz wichtige Erfahrung.“ Trotzdem ist auch Patricia froh, wenn die Zeit vorbei ist. „Am 24. 12. abends sind wir auf der Autobahn, so schnell, wie’s geht“, sagt sie. Das sagen auch Andy und Luc: „Am 25. 12. wird man in New York keine Spur mehr von uns sehen. Es wird so sein, als hätte es uns nie gegeben“, so Andy. Und Luc: „Ich bin froh, dass ich dann elf Monate Zeit habe, um das hier wieder zu vergessen.“

Zurückkommen wollen sie dennoch alle. Denn trotz Wirtschaftskrise läuft das Geschäft immer noch gut. „Wir verkaufen weniger als in den Jahren zuvor, aber immer noch genug.“ Sechzig Bäume setzt Luc am Tag ab, Andy bis zu hundert. In allen Größen: „Selbst die 200-Dollar-Bäume gehen gut. Wenn die Leute sich noch große Wohnungen leisten können, können sie sich auch noch einen großen Baum leisten.“

Ewig will Andy das aber nicht machen. „Zwei, drei Jahre noch“, sagt er. Dann will er in Vancouver ein eigenes Label mit Snowboard- und Skateboard-Klamotten aufmachen. Er ist selbst Boarder und glaubt, dass er damit ein Vermögen machen kann. Langfristig möchte er Filmemacher oder Fotograf werden. Einstweilen ist er jedoch noch ein Wanderarbeiter. Eine Wanderarbeiter, der noch jung genug ist zum Träumen. Aber auch einer, der alt genug ist, um die Tricks des Geschäfts zu kennen.

Trotz des Regens kommt noch ein Kunde an seinen Stand, ein Innenausstatter, der die Schaufenster eines Supermarkts dekorieren muss. Er will einen Baum kaufen, aber Andy rät ihm ab. Er solle doch lieber Zweige nehmen, da bekomme er mehr für das gleiche Geld. Der Dekorateur nimmt Zweige für 25 Dollar. „Wir schneiden die Zweige von den schlechten Bäumen unten ab und verkaufen sie extra“, erklärt Andy. „Mit unserem Auftraggeber rechnen wir aber nur die Bäume ab. Ich nehme das als Trinkgeld.“