Kein Kumpel

Gabriel scheint mehr als seine Kollegen unter dem Ansehensverlust der politischen Klasse zu leiden

von BETTINA GAUS

„Wann sind Sie denn auf den Gabriel aufmerksam geworden?“, fragt ein Kollege, der schon lange als Korrespondent in Niedersachsen arbeitet. Es wäre nett, wenn man sagen könnte, dass man das politische Talent schon lange erkannt hat. Aber das wäre offenkundig gelogen. Also wann? Keine Ahnung. Was hat der Gabriel eigentlich gemacht, bevor er Ministerpräsident wurde? Stimmt, er war SPD-Fraktionschef im Landtag.

Ein sehr unauffälliger Fraktionsvorsitzender, der seinen Karrieresprung ins Amt des Ministerpräsidenten dem skurrilen Umstand verdankt, dass sich sein Vorgänger Gerhard Glogowski die eigene Hochzeit sponsern ließ. Das ist drei Jahre her – und trotzdem hat man schon lange das Gefühl, Sigmar Gabriel sei immer dagewesen. Inzwischen wird er sogar als möglicher Bundeskanzler gehandelt. Wie macht einer das?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, im politischen Orchester auf sich aufmerksam zu machen. Die meisten benutzen die Pauke. Sigmar Gabriel nicht. Sein Instrument ist eher die Triangel: der kleine Ton, wenn die Trompeten schweigen. Dabei beherrscht der Mann seit Wochen die Schlagzeilen. Erst bietet er dem Kanzler offen Paroli und fordert gegen dessen anhaltenden Widerstand die neuerliche Einführung der Vermögenssteuer, weil die notwendige Bildungsreform sich angeblich nur so finanzieren lasse. Dann erfindet die Bundesregierung die Zinssteuer. Und von Stund an verliert Sigmar Gabriel kein Wort mehr über die Vermögenssteuer.

Statt dessen wirbt er auf SPD-Wahlveranstaltungen für das Kaninchen, von dem noch keineswegs feststeht, ob es am Ende tatsächlich aus dem Hut hoppelt. Der Kanzler habe „einen klugen Vorschlag gemacht: Lass uns das Geld bei denen holen, die bisher gar keine Steuern zahlen“, sagt der Landesfürst im Hotel Tophorn zu Cloppenburg. Dort haben sich etwa einhundert Sozialdemokraten versammelt, und viel mehr dürfte es in dem tiefschwarzen Ort auch nicht geben. Die sind begeistert.

Die meisten Leitartikler sind es nicht: Gabriel sei „eingeknickt“. Keine gute Werbung, rund sechs Wochen vor den Landtagswahlen. Es ließe sich ja auch die Frage stellen, ob Gerhard Schröder ohne den lästigen Parteifreund aus Niedersachsen überhaupt auf die Zinssteuer verfallen wäre. Der Ministerpräsident stellt diese Frage nicht – weder öffentlich noch im kleineren Kreis. Ihm scheint klar zu sein, dass es unklug wäre, wollte die Triangel die Pauken und Trompeten gerade dann übertönen, wenn die ihren Part brav vom Blatt spielen. Vielleicht liegt das Geheimnis des politischen Erfolges im Wissen um die Grenzen der eigenen Möglichkeiten.

Wenn es so etwas gibt wie einen unauffälligen Star, dann heißt er Sigmar Gabriel. „Ja, Sie müssen eine Umkehrosmose machen“, sagt er und nickt bestätigend, als Günter Herms berichtet, warum die Produktion von Kartoffelstärke so viel teurer ist als die Gewinnung von Stärke aus Mais oder Weizen. Günter Herms ist Geschäftsführer der Firma Emsland-Stärke in Emlichheim – einem Ort in strukturschwacher Umgebung mit wenig Arbeit. Eines der traditionellen deutschen Armenhäuser also.

Gegenwärtig sieht sich die Firma, die Kartoffelstärke produziert, durch eine geänderte Subventionspolitik der EU in ihrer Existenz gefährdet. Deshalb fordert der Geschäftsführer, die Kartoffelstärke „aus der Liste der entkoppelten Ernteprodukte“ herauszunehmen. „Können Sie mir das erklären?“, fragt Sigmar Gabriel – derselbe Mann, der gerade erst das Wort „Umkehrosmose“ locker von seinen Lippen fließen ließ. Ja, natürlich lässt sich das erklären. Es muss nur mal jemand fragen.

Der Ministerpräsident hat eigentlich gar keinen Bedarf an Informationen. Der Verlauf der Diskussion zeigt: Er ist gut präpariert. Aber die Bitte um Nachhilfe hat den Charakter des Gesprächs verändert – alle reden plötzlich auf Augenhöhe. Es geht jetzt um die Sache, nicht mehr um Hierarchien. Deshalb kann der Geschäftsführer irgendwann einräumen, dass auch seine Firma sich auf veränderte Bedingungen wird einstellen müssen. Und einfach nur für eine längere Anpassungszeit werben. Im Gegenzug kann Sigmar Gabriel durchaus versprechen, sich dafür einsetzen zu wollen. Der Betriebsbesuch ist ein Gesellenstück im wichtigsten Lehrberuf der Politik: Wie stelle ich alle Anwesenden zufrieden, ohne allzu konkrete Zusagen zu machen?

Den ersten Teil der Aufgabe erfüllen die meisten Politiker gut. Schwieriger wird es beim zweiten Teil. Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder sind oft miteinander verglichen worden. Fast immer kam dabei heraus, dass die beiden einen ähnlichen Politikstil pflegten. Das stimmt – zum Teil. Beide verstehen sich eher als Moderatoren denn als Polarisierer. Gabriel, der im persönlichen Umfeld den Ruf eines Cholerikers hat, wirbt bei öffentlichen Terminen geduldig um die Sympathie des CDU-Landrats. „Wir haben gemeinsam …“, sagt er gern. Und wenn er die Chance hat, dann wettert er lieber gegen die in Berlin und Brüssel als gegen die Konkurrenz im eigenen Land. Als Schröder noch Ministerpräsident war, hat er auf dieser Klaviatur ebenfalls gut gespielt.

In anderer Hinsicht aber unterscheiden sich die beiden Sozialdemokraten grundlegend voneinander. Schröder macht sich gern gemein mit seinem jeweiligen Gegenüber: Bei Bedarf ist auch er bereit, alles furchtbar kompliziert zu finden, und er behauptet dann, erst einmal in Ruhe ein Bier trinken zu wollen. In Gefahr und höchster Not gibt er am liebsten den Kumpel. Das ist nun allerdings nicht die Sache von Sigmar Gabriel. Bloß keine Kumpelei!

Höchstens zwei Minuten hat er bei der Emsland-Stärke auf die Konversation über das Wetter und auf Anekdotisches verwandt. Was Gabriel wohl täte, wenn ihm seine Wahlkampfmanager rieten, entsprechend dem Vorbild des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle einfach mal irgendwohin zu fahren, um Volleyball mit zufällig Anwesenden zu spielen? Da wäre man wirklich gerne dabei. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hätte vermutlich auf ein solches Anliegen ähnlich reagiert wie Sigmar Gabriel.

Auch bei anderen Gelegenheiten erinnert der niedersächsische Ministerpräsident eher an diesen als an den gegenwärtigen Amtsinhaber. Er ist sachlich bis hin zur Farblosigkeit. „Es geht doch nur um Macht und um Geld“, sagt ein Jugendlicher mit langem Pferdeschwanz auf der SPD-Veranstaltung in Cloppenburg. „Natürlich geht es um Regierungsmacht. Was glauben Sie, warum wir kandidieren?“, erwidert Gabriel. „Ja, und um Geld.“ Da wird der Ministerpräsident plötzlich sehr ernst: „Machen Sie das Land nicht zu einer Bananenrepublik.“ Über Kindergartenplätze redet er, über Pflegesätze, über Obdachlose: „Das werden Sie alles nicht so aufregend finden. Es muss Ihnen sehr gut gehen.“

Irgendwie ist Sigmar Gabriel auch ein Spielverderber. Es gibt Rollen im politischen Spiel – und es gibt Rollenzuweisungen. Denen er sich verweigert. So ernst wollen manche Kritiker „der Politik“ und „der Politiker“ wohl gar nicht genommen werden, wie Gabriel sie nimmt. Dass der Jugendliche kurz vor Ende der Veranstaltung geht, verstimmt den Ministerpräsidenten. Er hätte ihn gerne einen Tag lang auf Wahlkampfreise mitgenommen. Damit er versteht, worin Politik eigentlich besteht.

Es gibt Rollen im politischen Spiel – und es gibt Rollenzuweisungen. Denen Gabriel sich verweigert

Bei den meisten Politikern würde ein solches Anliegen aufgesetzt wirken. Bei Gabriel nicht – und das hängt mit seiner Biografie zusammen. Etwa 15 Jahre lang hat er ehrenamtliche Jugendarbeit geleistet, vom Teenageralter an. Noch heute scheint diese Erfahrung das zu sein, was ihn zusammenhält. „Nichts von dem, was ich heute könnte, könnte ich ohne das,“ sagt Gabriel in Cloppenburg. Später erzählt er, dass aus dieser Zeit auch sein Freundeskreis stammt: eine Gruppe, die sich selbst „Die Neinsager“ nennt und noch heute in Goslar wohnt. Wie übrigens auch der Ministerpräsident selbst: „Die Gefahr der Selbstüberschätzung ist da, als Politiker.“ Da sei der Freundeskreis wichtig. „Deren Bereitschaft, mich zu ernst zu nehmen, ist nicht besonders ausgeprägt.“

Sigmar Gabriel hatte eine schwierige Kindheit. Als er drei Jahre alt war, trennten sich die Eltern – es folgten sieben Jahre eines erbitterten Sorgerechtsstreits. „Ich war ein gehemmtes Kind.“ Die Mutter, der er viel verdanke, arbeitete als Krankenschwester im Schichtdienst. Erklärt sich die Art, in der sich der Ministerpräsident als Politiker präsentiert, auch aus dieser Vergangenheit?

Keine funkelnde intellektuelle Sottise kommt ihm über die Lippen – aber es scheint auch keinen Zusammenhang zu geben, den er zu kompliziert findet, um ihn allgemeinverständlich darzustrellen. Gelegentlich riecht das nach Populismus. Das empfindet er nicht als Vorwurf: „Dem Volk aus Maul zu schauen ist was anderes, als Volk nach dem Mund zu reden. Nach dem Mund rede ich nicht.“ Und wer glaubt ihm das?

Sigmar Gabriel scheint mehr als manche seiner Kollegen unter dem Ansehensverlust der politischen Klasse zu leiden. Inzwischen zeigt sich die wahre Revoluzzergesinnung ja eher daran, dass jemand Positives über einen Politiker zu sagen bereit ist, als an Kritik. Letzteres ist kleine Münze.

Diese Stimmung macht defensiv – und zeigt Wirkung: „Was immer ich Ihnen sage: Sie glauben es mir sowieso nicht,“ sagt Gabriel in Cloppenburg. Und fügt hinzu: „Halten Sie mich erst dann auch für einen Ganoven, wenn ich Ihnen dafür einen Grund liefere.“ Bei solchen Äußerungen schimmert Dünnhäutigkeit durch. Wäre so jemand dem Amt des Bundeskanzlers gewachsen? Abwarten. Gabriel behauptet ja, daran ohnehin nicht interessiert zu sein. Irgendwann wird eben jeder albern.