Wirklich kein Kinderspiel

Die Produktionen aus der belgischen Theaterschmiede Victoria vermitteln sich erstaunlich unpädagogisch: Josse de Pauw gastierte mit dem Stück „üBUNG“ auf Kampnagel

von MARGA WOLFF

Erwachsenwerden ist kein Kinderspiel. Auch wenn das in Josse de Pauws Theaterstück üBUNG auf Kampnagel anfangs so aussieht. Eine Leinwand beherrscht die Szenerie, auf der ein Film gezeigt wird, der in seinen schwarz-weißen Bildern an Zeit und Stil der Nouvelle Vague erinnert. Doch laufen die Bilder ohne Ton. Sechs Kinder zwischen zehn und dreizehn Jahren leihen der gutbürgerlichen Gesellschaft, die sich da in einem stilvoll modern eingerichteten Landhaus trifft, ihre Stimmen. Sie schlüpfen auf der Bühne in deren Kleidung, sprechen lippensynchron deren Texte, kopieren mitunter auch deren Gestik.

Die vier Jungen und zwei Mädchen sind jeweils „ihrem“ Erwachsenen zugeteilt. Allerdings wurden weder Rollenidentifikation noch die Kommunikation untereinander von ihnen verlangt. Allein die Imitation der Oberfläche öffnet Josse de Pauw sehr viel weiter reichende Projektionsräume.

„Es ist alles nur Übung“, beschwört der Hausherr seine Gäste, wenn es brenzlig wird und die aufgekratzte Stimmung umzukippen droht. Gepflegt hatte man Lachs und Kaviar verspeist, jede Menge Wein getrunken. Der Amateurpoet Olivier hatte mit komischem Ernst ein Gedicht, illustriert mit einem skurrilen Gestentanz, vorgetragen. György, der Geiger, hatte ein Ständchen auf der Violine gegeben. Klein und blass steht Stefaan de Rycke mit seinem leuchtend roten Haarschopf vor seinem riesenhaften Leinwand-Alter Ego, spielt konzentriert und noch ein wenig kratzig auf seiner Geige. Die anderen applaudieren.

Dem Auftrag der belgischen Theatergruppe Victoria, ein Stück für Jugendliche zu schreiben, fühlte de Pauw sich nicht gewachsen. Stattdessen erfand der flämische Regisseur, Autor und Schauspieler eine Geschichte für Erwachsene und legte deren Worte den Kindern in den Mund. Victoria aus Gent versteht sich als experimentelle Theaterplattform, die bereits so wundervolle Produktionen wie Bernadettje oder Moder und Kind von Alain Platel und Arne Sierens realisiert hat.

Platel, der viele Jahre dort Hauschoreograf und -regisseur war, hat diese Art von Theater dort etabliert, die sich mittlerweile schon zu einem erkennbaren Markenzeichen entwickelt hat. Profis und Laien, Erwachsene, Kinder und Jugendliche bevölkern in einer Art experimentellem Volkstheater die Bühne. Es geht um das Spiel mit der Authentizität. Die Jungen spiegeln sich in den Alten und umgekehrt. „Letztlich“, hat Platel mal gesagt, „geht es immer wieder um Initiationsriten des Erwachsenwerdens.“ Und darum geht es auch bei Josse de Pauw. Das Rituelle wird doppelt gebrochen, vermittelt auf der Bühne sowie im Film eine schon fast absurde Surrealität, die in dieser Inszenierung zu einem komplexen, vielschichtigen Gebäude aus Fiktion und Erinnerung verschmelzen.

Verblüffend unpädagogisch vermitteln sich die Produktionen aus der Theaterschmiede Victoria. Zeitreisen sind es, und dabei erfrischend direkt und unprätentiös. Und wenn die Gastgeberin Rolanda in selbstmitleidiger Trunkenheit elegisch durch den Garten tanzt, während ihr Mann sich an die Frau des Freundes heranmacht, betreten auch die Kinder das unsichere Terrain von Liebe und Begehren, von Freundschaft und Verrat. Die beiden Ehegatten im Film kriegen sich schließlich ganz unerwachsen in die Haare, rangeln auf einem Bootssteg um ihre männliche Ehre. Die Kinderstimmen übertönt dann ein ohrenbetäubender, Angst einflößender Lärm. Doch das Wasser ist nur knöcheltief, wie die beiden Kampfhähne erleichtert feststellen, nachdem sie reingefallen sind. Alles nur Übung eben.