„Die Kunden gucken, kaufen aber nicht“

Nils Busch-Petersen, Chef des Berliner Einzelhandelsverbandes, wundert sich nicht über die vielen „Seh-Leute“ im Weihnachtsgeschäft. Schließlich haben die Berliner extrem wenig Kaufkraft. Händlern empfiehlt er Dialektik

Interview PLUTONIA PLARRE
und RICHARD ROTHER

taz: Herr Busch-Petersen, Sie wirken ein wenig hektisch. Kommen Sie gerade vom Weihnachtseinkauf?

Nils Busch-Petersen: Nein, ich habe mir angewöhnt, Geschenke nicht kurz vorher einkaufen zu gehen.

Was werden Sie Ihrer Frau schenken?

Das werde ich doch nicht der taz sagen, nachher liest sie das vorher. Nur so viel: Nachdem sie ein Schmuckverbot verhängt hat, schenke ich mal etwas Praktisches, aber natürlich kein Haushaltsgerät. Sie wünscht sich seit langem einen guten tragbaren CD-Player, um Fremdsprachenkurse zu hören.

Was gibt es zu essen?

Am Heiligen Abend einfach, und am ersten Feiertag traditionell die Gans.

Haben Sie schon alles eingekauft?

Das mache ich am 23. Dezember, wenn ich freihabe und mich in den großen Trubel stürze.

Sie gehören also zu den wenigen Leuten, die überhaupt noch einkaufen gehen.

Ein paar gibt es ja noch, ich hörte davon. Wir jedenfalls werden uns die Weihnachtsstimmung und die kulinarischen Köstlichkeiten nicht verderben lassen. Der Wein ist selbstverständlich schon eingelagert. Zur Gans werden wir wohl einen 95er Bordeaux nehmen und vorweg vielleicht einen sehr schönen Riesling, Geheimrat J.

Das Weihnachtsgeschäft insgesamt dürfte Ihnen aber wenig Grund zum Feiern geben.

Das Weihnachtsgeschäft insgesamt verdient zwar schon noch den Namen, hat aber in den ersten Wochen überhaupt nicht angeschlagen. Am dritten Adventssonnabend hatten wir den Eindruck, dass Druck in das Geschäft kommt. Wichtig ist, ob in der vergangenen Woche der Knoten geplatzt ist. Genaue Zahlen liegen noch nicht vor, aber sicher ist: Das Weihnachtsgeschäft hat das Jahr nicht gerettet.

Was waren die Renner der Saison?

Gut gelaufen sind vor allem, großstadttypisch, technische Weiterentwicklungen wie DVD-Player, CD-Brenner und Ähnliches. Bei den Spielwaren hält der Retro-Trend zu Brettspielen, zu Familienspielen an. Es werden gottlob nicht noch mehr laserspeiende Funkenkanonen gekauft, sondern mehr Holzspielzeug und Puppenstuben. Gut laufen auch die Klassiker wie Parfüm und jetzt zum Schluss die SOS-Käufe: Socken, Oberhemden, Schlipse. Klassische Notkäufe eben, aber eigentlich sehr passende Geschenke für den Herrn.

Welche Produkte sind out?

Nach dem Riesenboom in den letzten Jahren ist der Handy-Verkauf sehr zögerlich, weil die meisten schon eins haben. Nur das technisch aktuellste Modell läuft meist noch ganz gut. Unbefriedigend gelaufen ist auch Textil. In den ersten Wochen des Weihnachtsgeschäftes glich unsere Stadt eher einem Hafen: Es waren nur Seh-Leute da. Die Kunden gucken, kaufen aber nicht.

Das Jahr 2002 ist das schlechteste in der Berliner Einzelhandelsgeschichte. Sind die Berliner zu arm?

Die Misere ist nur im Wechselspiel von Ursachen zu erklären. Berlin ist und bleibt eine arme Stadt mit einem armen Umland. Nach den neuen Zahlen der Gesellschaft für Konsumforschung liegen wir auf Platz 204 der deutschen Städte in puncto einzelhandelsrelevanter Kaufkraft.

Was heißt das im Bundesvergleich?

München liegt auf Platz 2 mit über 1.000 Euro pro Person mehr im Jahr. Für Berlin als europäische Metropole ist das ein ganz schlechter Wert, hinter uns liegen vielleicht noch Eggesin, Riesa, Templin oder andere ostdeutsche Kleinstädte.

Woran liegt das?

Wir haben in dieser Stadt eine extrem hohe Arbeitslosigkeit und eine hohe Zahl an Sozialhilfeempfängern. In diesem Jahr verzeichneten wir auch die Einbrüche aus den letzten Boombereichen. Weil viele IT-Firmen nach Berlin gingen, gibt es hier jetzt auch viele arbeitslose IT-Leute. Das schlägt unmittelbar in den privaten Konsum durch.

Gibt es auch Gründe, die nicht berlinspezifisch sind?

Da ist zum einen die wachsende Verunsicherung gegenüber dem Kurs der Bundesregierung. Jede Eruption im Lande bekommt die Hauptstadt in besonderem Maße zu spüren. Die Stimmung ist schlechter als die Lage, aber die Leute merken, dass Deutschland wirtschaftlich auf der Kippe steht. Mehrere Millionen Menschen sind hier dauerhaft arbeitslos. Pläne für Steuer- und Abgabenerhöhungen sind immer negativ für den Konsum, auch wenn diese noch nicht umgesetzt sind. Werden Steuererhöhungen angekündigt, haben wir zwei, drei Tage Flaute in der Kasse. Die Mehrzahl der Kaufentscheidungen, von den reinen Versorgungskäufen abgesehen, ist stimmungsabhängig. Wenn wir erst frieren müssten, um uns eine neue Jacke zu kaufen, würden wir alle noch in alten Mänteln rumrennen.

Die Bargeldeinführung des Euro hat die Stimmung auch nicht gerade gehoben.

Die Euro-Teuro-Debatte war ganz unsäglich. Mittlerweile hat ja sogar der Bundesfinanzminister eingesehen, dass dies eine Scheindebatte war. Zu Beginn des Jahres hat Hans Eichel die Verbraucher aufgefordert, den Handel quasi wegen angeblich ungebührlicher Preiserhöhungen zu boykottieren. Jetzt wundert er sich, dass ihm die Steuereinnahmen fehlen. Dabei ist der Handel der größte Steuereintreiber im Lande: Auf nahezu alle Produkte führen wir 16 Prozent Mehrwertsteuer ab.

Die meisten Leute haben das Gefühl, vieles ist teurer geworden. In der Gastronomie ist das unbestritten.

Wir sind nicht die Kneipen und wir sind auch nicht Hans Wall, der kommentarlos das Pullern um hundert Prozent teurer macht. Früher kostete einmal pinkeln gehen 50 Pfennig, jetzt 50 Cent. Darüber regt sich niemand auf, aber der Handel kriegt die Prügel ab. Ich will nicht sagen, dass es nicht vielleicht hier und da Versuche gegeben hat, bei den Preisen etwas zu machen, aber das hat der Markt brutal eingefangen. Die Leute, die das Gefühl haben, weniger Geld zum Konsumieren übrig zu behalten, kaufen extrem preisorientiert ein. Alle Discounter sind zufrieden mit diesem Jahr, die schreiben schwarze Zahlen.

Mittlerweile gilt es schon fast als schick, zu Aldi zu gehen.

Es ist völlig in Ordnung, sich dort den Computer oder etwas anderes zu kaufen. Das Spargerüst vollzieht sich allerdings immer nach demselben Muster: Die Leute sparen immer zuerst bei den langlebigen, hochwertigen Gütern. Am stärksten brechen die Möbler ein, in diesem Jahr machen die Berliner Möbelhändler 30 Prozent weniger Umsatz als im Vorjahr, nachdem diese schon seit 1992 stetig gesunken sind. Das werden nicht alle aushalten. Aber es trifft auch den Textilhandel: Minus 7 Prozent ist eine katastrophale Zahl. Es ist zwar angenehm, dass es nicht mehr das Modediktat gibt, dass man nach drei Jahren alles wechseln muss. Aber für Modehändler ist das ein Problem.

Vor zwei Jahren haben Sie prophezeit, dass sich Qualität und nicht Dumping durchsetzen wird. Sind Sie immer noch so optimistisch?

An dieser Langfristprognose halte ich fest. Nehmen wir BSE: Eigentlich hätte die Krise zu einem anderen Verbraucherverhalten führen müssen, hat sie aber nicht. Ein Zahlenbeispiel mag das verdeutlichen: Würden alle Grünen-Wähler Bioprodukte kaufen, hätte sich deren Marktanteil längst verdoppelt. Aber es gibt, zögerlich zwar, eine steigende Nachfrage nach qualitätsvoller Ernährung, wo auch die Kaufkraft da ist.

Wie halten Sie es denn persönlich?

Ich habe schon lange die Entscheidung getroffen, mich lieber bewusst und hochwertig zu ernähren, als dreimal im Jahr nach Gran Canaria zu fliegen. Ich bin noch nie dagewesen und habe wohl nicht viel versäumt. Andererseits bieten auch die Discounter Bioprodukte an. Das ist eine positive Entwicklung.

Dennoch, viele Geschäfte wird es in einigen Jahren nicht mehr geben.

Das ist mit Sicherheit so. Fachhandelsgeschäfte, die nicht mit anderen über das übliche Maß hinaus kooperieren, werden in den nächsten zehn Jahren nicht mehr am Markt sein: Also der normale Lebensmittelladen mit 200 Quadratmetern an der Ecke, der Elektrohändler oder der kleine Textilit, der meint, er könne auf eine Messe gehen und selber einkaufen – die haben keine Perspektive.

Wie lautet Ihr Rat?

Ich muss bereit sein, meinen Individualismus zurückzustellen, um meine Individualität, mein Überleben zu sichern. Das kann man natürlich nur als Dialektiker begreifen, aber wir als Einzelhandelsverband müssen das unseren Mitgliedern auch in einfachen Worten verständlich machen. Nehmen wir die Diskussion um die Shopping-Center: Wenn sich die Kaufleute einer Straße zusammentun und ähnlich viel für Werbung ausgeben würden, wie das in einem Shopping-Center üblich ist, wäre viel mehr Leben auf der Straße. Unmotivierte Kunden müssen eben motiviert werden.

Wo sehen Sie Erfolg versprechende Ansätze?

Ein Ansatz ist, wenn bestimmte Branchengrenzen verschwimmen. Nehmen wir zum Beispiel die Piazza Italiana in Frohnau: Gastronomie mit Salumeria gepaart, mit offenen Verkaufszeiten; die verkaufen noch nach Mitternacht aus ihrer Wurst- und Käsetheke. Außerdem drängen immer noch ausländische Unternehmen auf den deutschen Markt. Das würden die nicht tun, wenn es hier nur Blut und Tränen zu holen gäbe. Zum Teil haben die „Vertikalen“ mit ihrer supermodernen Organisation einen Riesenerfolg.

Zum Beispiel H &M, Mango und Zara?

Dahinter stecken zum Beispiel Computersysteme, von denen Sie nur träumen können. Die sagen automatisch: In Berlin ist in dem und dem Laden dieser rosa Pullover in dieser Größe zum zweiten Mal verkauft worden. Sofort geht die Order raus, genau diesen Pulli in der Türkei noch einmal stricken zu lassen und nach Berlin zu schicken. Solche Unternehmen zeigen, es geht, wenn sie auch sehr preisbetont und auf die junge Kundschaft ausgerichtet sind.

Werden die Älteren vernachlässigt?

Die Werbung ist immer noch voll mit Jugendwahn, obwohl wir kaum noch Jugendliche haben. Die Älteren sind ein viel interessanterer Markt, der in Deutschland noch zu knacken ist. Das ist die Goldader, die noch nicht angeschürft ist. Um die besonderen Bedürfnisse der Menschen über 60, die über das meiste Geld in der Bevölkerung verfügen, wird sich noch viel zu wenig gekümmert. Die Tourismus- und Wellness-Branche hat die schon langsam entdeckt, aber der Einzelhandel? In den USA werden die Grannies, die Greys richtig umsorgt. Da müssen wir ran, wo sonst.

Wie könnte das aussehen?

Wir dürfen den älteren Kunden nicht auf Leinsamen reduzieren. Die Ladenkonzepte müssen verändert werden. Die guten, renditestarken Produkte liegen manchmal in den Supermärkten ganz unten, wo die Älteren gar nicht rankommen. Dudelmusik ist für Leute mit Hörproblemen eine Zumutung; viele Farbkombinationen der Werbung sind für Menschen mit einem leichten Gelbfilter vor den Augen nicht wahrnehmbar.

Herr Busch-Petersen, Sie sprudeln ja vor Energie. Wollen Sie den Job noch lange machen?

Meine Tätigkeit macht mir großen Spaß. Ich habe zwar eine Klientel zu vertreten, bin aber an keinerlei ideologische Präferenzen gebunden. Ich schätze eine Arbeit, bei der ich morgens zwar weiß, welche Termine am Tag anstehen, sich das aber komplett ändern kann, weil irgendein neues Dosenpfand herumgeistert oder Herr Strieder eine neue Großfläche bauen will. Ich schätze ein bisschen ein chaotisches Umfeld.

Träumen Sie nicht manchmal davon, einen kleinen, gemütlichen Laden aufzumachen?

Auch andere Dinge würden mich reizen. Wahnsinnig interessant fände ich zum Beispiel ein Buchprojekt über die lange Geschichte des Handels, das auch die düstersten Jahre der Vergangenheit angeht. Da gibt es noch viel Unbewältigtes.

Zum Schluss möchten wir Sie noch um einen Ausblick auf das Jahr 2003 bitten. Kommt die tiefe Depression?

Es gibt keinen Indikator, dass es zu Jahresbeginn besser wird. Dass Abgaben und Steuern steigen, wird dann ja erst erst Realität. Für den Konsum wird es mindestens im ersten Halbjahr eine Durststrecke geben. Lichtpunkte sind die Minijobs: Wenn mehr Leute aus dem Schwarzarbeitssektor herausgeholt werden, kann das positive Auswirkungen auf die Massenkaufkraft haben. Und wenn die Bundesregierung sich traut und einen längeren Ladenschluss durchzieht, wird Berlin für Touristen interessanter, die Kaufkraft bringen.

Gibt es beim Ladenschluss für Sie überhaupt kein Tabu?

Geschützt werden sollten nur der Sonntag und die Feiertage. Das Gebot des freien siebten Tages ist heilig, das ist schließlich schon fast 6.000 Jahre alt.