Wege aus dem Angstraum

Damit nicht noch mehr Opfer rechter Gewalt den Fennpfuhl verlassen, schlagen Anwohner, eine Bürgerinitiative und ein neu gegründetes Netzwerk Alarm. Sie wollen nicht länger tatenlos zusehen

von HEIKE KLEFFNER

Kein Schild „zur Zivilgesellschaft, geradeaus“ weist den Weg zu der ungewöhnlichen Versammlung, die sich am Freitag der dritten Adventswoche unter bunten Leuchtkugeln und Weihnachtssternen im großen Saal der evangelischen Kirchengemeinde Am Fennpfuhl trifft. Der Kreis Holzstühle ist bis auf den letzten Platz besetzt. Die Mehrheit im Raum sind Frauen, die die dreißig überschritten haben: Anwohnerinnen vom „Bürgerverein Fennpfuhl“, Schulsozialarbeiterinnen, eine Mitarbeiterin der Kaufhof-Filiale am Anton-Saefkow-Platz, Lichtenbergs Ausländerbeauftragte, BVV-Abgeordnete und die Stadtteilmanagerin. Dazwischen sitzen einige Männer, der Gemeindepfarrer, Vertreter der „Initiative gegen Rechtsextremismus Lichtenberg/Hohenschönhausen“ und Uwe Neirich von „Lichtblicke – Netzwerk für Demokratie und Toleranz“. Berufstätige Erwachsene, die daran gewöhnt sind, dass ihnen zugehört wird.

Doch als der 18-jährige Steffen spricht, schweigen alle. Der Junge, der in Wirklichkeit anders heißt, braucht nur wenige Sätze, um zu beschreiben, was „ein Angstraum“ ist. Für den Gymnasiasten, der so ordentlich angezogen und blass aussieht wie 90 Prozent der Jugendlichen in dem Stadtteil, beginnt die no go area um die Ecke von seiner Haustür. Rings um den Anton-Saefkow-Platz. Auf den schwach beleuchteten Wegen durch den Park rings um den See am Fennpfuhl. An der Tramhaltestelle Anton-Saefkow-Platz, wo Steffen am 20. Oktober um 3 Uhr nachts mit einem Freund von acht rechtsextremen jungen Männern zusammengeschlagen wurde.

Steffen wusste, dass der Angriff kein Zufall war, als die Worte „Rotfront-Sau“ fielen. Seit er vor zwei Jahren einschritt, als zwei im Stadtteil bekannte rechte Schläger über einen Russlanddeutschen herfielen, wird er bedroht. Weil Steffen die Polizei rief, wurden die Täter gefasst. Dass vor Gericht, wo er als Zeuge aussagte, die Adresse seiner Eltern verlesen würde, wusste Steffen nicht. Dass die Rechten ihn im Visier hatten, erfuhr er wenig später, als ein Neonzi ihm vor seiner Schule offen drohte: „Du hast einen von uns in den Knast gebracht. Ich knall dich ab.“

Steffens Freunde haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Patrick beispielsweise, den die Rechten so lange ausspionierten, bis sie wussten, wo er wohnt – und dann mit Steinen die Scheibe seines Schlafzimmers einwarfen. Von der Polizei fühlen sich die Schüler nicht ernst genommen. Wie ein Puzzle reihen sich die Beobachtungen der Rednerinnen zu einem Gesamtbild aneinander, von dem Uwe Neirich, am Ende des Abends sagen wird: „Am Fennpfuhl konnte sich über zwei Jahre lang eine rechtsextreme Gruppe formieren, ohne dass irgendjemand intervenierte.“ Die Frauen im Kreis erzählen von Alltäglichem: Als „unserem vietnamesischen Blumenhändler die Scheiben eingeschlagen wurden“ (die Kaufhof-Mitarbeiterin). „Als am 20. April aus dem ‚Treffpunkt Fennpfuhl‘ Nazilieder zu hören waren“ (eine Anwohnerin). Vor aller Augen sei die Gegend um den Anton-Saefkow-Platz zum „Angstraum für alle geworden, die nicht ins rechte Weltbild passen,“ sagt Neirich. Weil sie einen Ort hatten, wo sie sich über zwei Jahre lang ungestört treffen konnten, fügt Timm Köhler von der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus“ hinzu.

Eine in Selbsthilfe renovierte Plattenbauwohnung an dem Platz, die der Verein „Treffpunkt Fennpfuhl“ als Nachbarschaftsclub ausgebaut hat. 30 bis 35 Mitglieder der rechten Gruppe trafen sich hier, erzählt Andreas Fischer, Geschäftsführer des Vereins. Drei bekennende NPD-Mitglieder sorgten dafür, dass Mitläufer sich dem rechtsextremen Habitus anpassten oder aus der Gruppe ausgeschlossen wurden. Fischer erzählt, dass sich „die Jungs eben mit erhobenem Arm begrüßt haben“. Er habe mit ihnen Karten und Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt, zugehört und Bier getrunken. Dann erklärt der 42-Jährige: „Bei 98 Prozent unserer Jungs ist das Elternhaus in Ordnung, die sind netter und höflicher als jeder andere, und eine Ausbildung oder Lehrstelle haben sie auch.“ Es sei „nur das Äußere“, das die Gruppe auffällig mache.

Dass Fischer die Jungs überhaupt als Rechte bezeichnet, ist neu. „Der Verein hat lange gebraucht, um zuzugeben, dass er die Betreuung der rechten Gruppe nicht bewältigt“, sagt Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (PDS). Und fügt hinzu: „Wer eine gefestigte rechte Meinung hat, den muss ich nicht auch noch in einem Jugendclub behüten.“

Fischer sieht das anders: Der Bezirk habe den Verein allein gelassen mit den Rechten. Pädagogisch hätten weder die fünf ABM-Kräfte des Vereins noch die Ehrenamtlichen mit den Rechten gearbeitet. „Wir waren überfordert.“ Fischer behauptet, vor einem Monat habe man die Rechten geschlossen vor die Tür gesetzt. Weil der Ruf des Vereins in Gefahr war. Nun säßen seine ehemaligen Schützlinge wieder auf der Straße. „Wir leben hier und wollen nicht weggehen“, hätten die zu ihm gesagt.

Am Ende des Abends redet Steffen noch einmal: „Meine Eltern sind an den Fennpfuhl gezogen, als ich sechs Monate alt war. Alle meine Freunde leben hier. Ich gehe hier zur Schule. Jetzt zieh ich weg, weil ich ein Leben ohne Angst will.“