„Abenteurer liegen alle unterm Eis“

Zehn Menschen und 5.000 Pinguine: Wer als Arzt für 15 Monate in die Antarktis geht, nimmt, neben vielen Büchern und vielleicht einem Motorrad, auch eine Menge Ungewissheit mit: Wer bricht sich ein Bein, wer kriegt den Eiskoller – und: Wie komme ich mit mir selber klar?

Früher war das eine reine Männerangelegenheit – die patriarchale Welt hat geglaubt, nur sie kann dasDie Antarktis ist eigentlich überall gleich. Das heißt: Die Umwelt fällt weg, und nur noch du bleibst übrigAm 11. September war der Gedanke: „Hoffentlich vergessen die uns hier nicht.“ Soweit ist man weg

Der Bremer Chirurg Uwe Kapieske wird 15 Monate in der Antarktis verbringen, neun davon in den unterirdischen Röhren der Neumayer-Station des Alfred-Wegener-Institutes. Im vergangenen Jahr war Kapieske bereits für vier Monate auf der Station. Als Leiter der jetzigen „Überwinterung“ ist er für das Wohlergehen von neun WissenschaftlerInnen und Technikern verantwortlich. Die einzigen Nachbarn sind 5.000 Pinguine einer nahe gelegenen Kolonie.

taz: Zum Jahreswechsel werden Sie in der Antarktis sein. Wieviel Grad sind dort im Augenlick?

Uwe Kapieske: Zurzeit ist dort Frühling, also ungefähr minus zehn Grad. Im Winter, also Juli/August, werden es minus 35. Letztes Jahr hatten wir sogar minus 48 Grad.

Wie ist das Gefühl, ein und ein viertel Jahr pures Eis vor sich zu haben?

Da ich das schon kenne, macht es mir Spaß. Allerdings ist es diesmal eine viel längere Zeit. Von daher weiß ich natürlich nicht, wie ich reagieren werde. Als wir letztes Jahr mit dem Schiff weggefahren sind und die neun Überwinterer plötzlich auf dem Eis blieben und immer kleiner wurden, war das schon ein merkwürdiges Gefühl.

In diesem Moment, wo das Schiff ablegt, weiß man genau: Bis zum nächsten Dezember kommt keines mehr. Du bist völlig allein in der Gegend – und keiner kann dich abholen.

Was ist denn das Attraktive an einer Überwinterung im Eis?

Wenn man da ankommt, ist man überwältigt von der Größe und Weite der Landschaft. Es ist faszinierend, dass da sozusagen alles leer ist, dass es kaum noch Reize von Außen gibt. Ich betrachte es als ein Privileg, an solch einem Punkt am „Ende der Welt“ sein zu können. Wenn man da Langlauf macht, geht man in ein Nichts: Es gibt nur die Linie zwischen Eisdecke und Himmel, und da läuft man lang.

Es ist vollkommen egal, wo in der Antarktis man ist: Sie ist eigentlich immer gleich. Man selbst ist aber nicht immer der Gleiche. Das heißt: Die Umwelt fällt weg, und nur noch du bleibst übrig. Man lernt sich also selbst gnadenlos genau kennen. In allen Biographien, die man von irgendwelchen Polarforschern liest, klingt das wie eine Reise ins eigene Innere.

Wie gut kennen Sie die Leute, mit denen Sie im Eis sein werden?

Eigentlich kenne ich die nur vom „Bergkurs“. Da ist eine zehntägige Vorbereitung auf einer Alpenhütte und stellt eine der Möglichkeiten dar, zu schauen, ob einer sehr auffällig wird – ob jemand herausragen oder sich verstecken will, und wie die Leute sich beteiligen. Wenn da einer mit verschränkten Armen sitzt und wartet, dass ihm der Koch den Pudding bringt, dann hat er natürlich schlechte Karten.

Aber über so einen Pudding-Test hinaus muss es doch noch andere Kriterien geben.

Sicher. Wir waren da unter der Leitung von zwei sehr erfahrenen Psychologen. Die Überwinterungen gibt es immerhin seit 1982. Also hat man enorm viele Erfahrungen. Das Wegener-Institut versucht auch schon bei den Vorgesprächen die Leute herauszufiltern, bei denen man das Gefühl hat: Die laufen vor irgendetwas weg.

Was für Beziehungen entstehen denn, wenn man so lange zusammen in der Einsamkeit ist?

Früher gab es manchmal das Problem, dass sich die Leute untereinander überhaupt nicht verstanden haben. Da gab es die technische Mannschaft, die hatten einen ganz anderen Jargon drauf als die Wissenschaftler. Jetzt versucht man schon im Vorfeld ziemlich genau rauszukriegen, ob die Leute zusammen passen. Aber es gab schon Überwinterungsgruppen, die sich in der Vorbereitung perfekt verstanden haben, und trotzdem total zerrüttet wieder weggegangen sind. Und bei anderen lief es genau verkehrt herum: Die konnten sich erst nicht leiden und hatten dann eine perfekte Überwinterung.

Wie es bei uns läuft, weiß ich natürlich noch nicht. Aber das kann natürlich wie auf einem Schiff sein: Dass es irgendwann einen Punkt gibt, wo du nichts mehr zu erzählen hast. Irgendwann ist man wahrscheinlich wie ein altes Ehepaar, das sich allzu gut kennt.

Man sollte so eine Überwinterung vielleicht nicht zweimal machen. Bei den Amerikanern gibt es Leute, die haben es sieben oder acht Mal gemacht, die können schon gar nicht mehr anders – das ist die einzige Welt, in der sie sich zu Recht finden. Die Schwierigkeit der anschließenden Reintegration in die „normale Welt“ ist aber auch bei uns bekannt.

Was passiert, wenn jemand auf der Station durchdreht? Wenn der Antarktiskoller ausbricht?

Wenn man depressive Leute hat, ist das ein echtes Problem. Man muss dafür sorgen, dass man mehr Arbeit hat, als man erledigen kann – so dass man gar nicht ins Sinnieren kommt, ob man da vielleicht irgendwie „verloren“ ist.

Und wenn einer unbedingt weg will?

Das geht definitv nicht. Eisbrecher kommen im Winter nicht durch. Hubschrauber haben keine so lange Reichweite, kleine Polarflieger schaffen die Strecke auch nicht und größere Flugzeuge können bei uns nicht landen.

Auch wenn jemand in Lebensgefahr ist, gibt es keinen Ausweg?

Dafür bin ich ja da. Allerdings wissen alle, dass es nur begrenzte Möglichkeiten gibt. Als es vergangenes Jahr auf der amerikanischen Station die Krebserkrankung gab, konnte nur etwas abgeworfen werden – die betroffene Ärztin musste sich selbst behandeln.

Auf der Neumayer-Station bin ich quasi Chirurg, OP-Schwester, Techniker und Narkosearzt in einem. Es gibt eine kleine Intensivstation, eine Zahnarztausrüstung, ein ganzes Sammelsurium an OP-Bestecken – allerdings habe ich keine Blutbank. Blutkonserven halten sich nur 20 Tage.

Wie weit ist der nächste bewohnte Punkt entfernt?

Die britische Halley-Station liegt 600 Kilometer weiter. Aber da kann man nicht hinfahren, da gibt’s keine Wege – nur Gletscherspalten. Der letzte richtige Ort liegt am Südzipfel von Argentinien, also etwa zweieinhalbtausend Kilometer enfernt.

Als ich die letzten Überwinterer gefragt habe, wie sie den 11. September erlebt haben, erzählten sie: Gleich nach der Sorge vor einem möglichen Weltkrieg kam der Gedanke: „Hoffentlich vergessen die uns hier nicht.“ Soweit ist man weg.

Wie funktioniert der Kontakt zur Außenwelt?

Es gibt eine Internet-Standleitung zur Übermittlung der technischen Daten, über die laufen auch drei Telefon-Anschlüsse. Die ist so potent, dass sogar Freiraum bleibt zum privaten Surfen – wobei man sich natürlich keine Videofilme runterladen kann.

Wenn die Standleitung mal zusammenbrechen sollte, haben wir noch die Satelliten-Handys, den Kurzwellenfunk und das Morsen.

Was kostet die Telefoneinheit beim privaten Gebrauch?

Eine Mark die Minute. Früher waren das 15 Mark. Es gab früher Leute, die hatten enorme Rechnungen.

Man muss aber auch aus anderen Gründen ein Auge drauf haben: Wenn einer zu viel telefoniert, hat er wahrscheinlich Sorgen. Und mit dem muss man dann sprechen.

Dann müssen Sie also auch eine Art Stationspsychologe sein.

Ja. Sollte ich sein.

Werden für die Überwinterungen nur Singles unter Vertrag genommen? Oder, wie kann man gegebenenfalls sein Beziehungsleben organisieren?

Es sind alte Seefahrer dabei, deren Frauen kennen das. Aber das ist in der Tat eines der wirklich großen Probleme. Wenn man Angst hat, den Partner zu verlieren oder wenn da unten, in der Einsamkeit, der Zurückgebliebene zu so einer Größe anwächst, dass sozusagen auf einer psychologischen Ebene das Funktionieren eines Überwinterers gestört wird.

Achtzig Prozent der Leute, die mit dem US-amerikanischen Forscher Richard Evelyn Bird in der Antarktis waren, waren Singles. Aber als sie zurückgekommen sind, haben wiederum achtzig Prozent von ihnen umgehend geheiratet.

Wie ist das Verhältnis von Männern und Frauen?

Wir sind diesmal acht Männer und zwei Frauen. Früher war das eine reine Männerangelegenheit – die patriarchale Welt hat geglaubt, nur sie kann das. Mittlerweile wird gesagt, dass gemischte Gruppen besser funktionieren, weil das Stationsklima dadurch aufgelockert wird. Wenn Frauen dabei sind, achten die Männer mehr auf sich – sie lassen sich nicht so gehen.

Und gibt es ein Anbandelungsverbot?

Nein. Aber wenn da Kinder gezeugt würden, hätte ich als Arzt ein ernstes Problem. Wir sind ja auch eine wissenschaftliche Station, wo alle dick vermummt rumlaufen, und kein Robinson-Camp.

Wie sieht denn der Alltag auf so einer Station aus?

Abgesehen von den ganzen wissenschaftlichen Arbeiten und der Versorgung, muss die Station ständig wieder hergerichtet werden, man muss die Schneeschmelzanlage füttern und die Zugänge frei halten.

Ein großes Problem ist der Wind. Hinter jedem Hindernis bilden sich sofort hohe Verwehungen, also auch hinter unseren Containern. Die können dann innerhalb von zwei, drei Tagen komplett verwehen. Aber die Neumayer-Station ist sozusagen das 5-Sterne-Hotel unter den Antarktis-Stationen.

Aber die anderen Nationalitäten werden doch auch nicht in Biwak-Zelten hausen.

Natürlich nicht, aber bei denen ist technisch nicht so ausgefeilt wie auf der Neumayer-Station – zum Beispiel, was die Aufbereitungsanlage und die Kläranlage angeht.

Den früheren Polarforschern fielen die Zähne wegen Skorbut aus. Wie ist die Ernährung auf Neumayer?

Wir haben alles da – in schockgefrostetem Zustand. Aber das ist sehr nahrhaft. Die Gefahr ist eher, dass man sich zu dick isst, weil man nicht genügend Bewegung bekommt. Aber dann muss man eben in den Fitness-Container.

Wieviel Kilo Gepäck darf jeder mitnehmen?

Es gibt keine Grenze. Beim letzten Mal hat sich jemand ein zerlegtes Motorrad mit runter genommen, um daran rumzubasteln. Diesmal hat einer sein Schlagzeug dabei, dazu kommen zwei mit Fender-Piano und Gitarre. Die können dann in der Fahrzeughalle üben. Die Stimmung muss gut sein, da der labilste Punkt nun mal der Mensch ist.

Was haben Sie dabei?

Insgesamt 200 Kilo. Darunter Medizinbücher, historische Abhandlungen, Romane – mindestens 60 schwerwiegende Schinken. Dazu 200 CDs und ’ne Menge Rohlinge zum Brennen.

In der Stations-Bibliothek gibt’s auch den gesamten Tolstoj, Dostojewski, Proust, Bloch, Nietzsche und so weiter.

Und wenn jemand zu wenig Zigaretten eingepackt hat?

Der muss aufhören zu rauchen. Oder nach und nach die Teile seines Computers verkaufen.

Ist Alkohol erlaubt?

Ja. Man will ja die Leute nicht gängeln. Wenn das verboten wird – was zum Beispiel bei den Amerikanern der Fall ist –, heißt das ja nicht, das nicht getrunken wird. Die Leute bringen sich das dann privat mit und trinken versteckt, was wiederum zu problematischen Gruppenbildungen führt. Also: Alkohol ist frei zugänglich, aber natürlich soll man sich nicht besaufen.

Man muss den Leute sonst ins Gewissen reden und sagen, dass das kein Ort ist, an dem man sich so verhalten kann, wie es zu Hause möglich ist. Das ist kein Abenteuer. „Abenteurer liegen alle unterm Eis“, wird bei uns gesagt. Wir sind Arbeiter.

Die schwierigste Zeit ist ja wohl im Winter.

Ja. Da müssen wir nach der Uhrzeit leben. Der Wecker ist sowieso eines der wichtigsten Instrumente. Im Juli und August wird es komplett dunkel sein, vorher ist die Sonne auch schon leicht unter dem Horizont.

Die Röhren sind zwar immer erleuchtet, aber das Tageslicht fehlt. Und dadurch sinkt der Serotonin-Spiegel, was Depressionen fördern kann.

Ist es eigentlich schwierig, genügend Interessierte für eine Überwinterung zu finden?

Auf die Anzeige für meine Stelle im Ärzteblatt hatten sich auf einen Schlag über 60 Leute gemeldet. Allerdings ist es finanziell nicht mehr so lukrativ wie früher – da mussten die Überwinterer noch keine Steuern zahlen.

Interview: Henning Bleyl