Nüchtern, mit Schnee im Gesicht

Der Ofen ist warm, bei Lidl sind die Menschen ausgesprochen höflich zueinander, und mit Freunden spricht man in diesen Tagen am liebsten über das Sozialamt und tauscht traurige Erinnerungen an die Kindheit aus. Ein Bericht aus der Zwischenzeit

von DETLEF KUHLBRODT

Die Zeit am Ende des Jahres fällt heraus aus dem üblichen Gang der Dinge. Zwischen Mitte Dezember und Anfang Januar bewegt man sich in einem Niemandsland. Was zu tun war, ist getan oder wird nun auch nicht mehr getan werden. Erschöpft hat man das rettende Ufer der Jahresendzeit erreicht. Das Jahr ist erledigt und irgendwie ist es ganz still, auch wenn’s laut ist. Das mag am Kater liegen, der im Kopf rumspringt, oder am Schnee oder auch daran, dass man dicke Pullover mit Pantoffeln anhat und der Ofen schön warm ist, und plötzlich ist man ganz sentimental und entschuldigt sich beim Ofen, dass man ihn so oft beschimpft hat, und der Ofen sagt, schon gut.

Den Ofen im Rücken denkt man wie jedes Jahr: Erstaunlich, zum Beispiel, dass die Verwandlung vom Sommer- in den Wintermenschen, vom Schmetterling in die Puppe sozusagen, so lange dauert; dass man im November irgendwie noch vom Sommer zehrt und der November vermutlich deshalb der trostloseste Monat ist, weil diese Sonnenreste im Körper nicht zur nasskalten Düsternis der Großstadt passen.

Erst jetzt, wo’s eigentlich ja wieder aufwärts geht, die Tage wieder länger werden, hat man das Gefühl, im Winter angekommen zu sein. Der Sommer war eine Gewohnheit gewesen, die sich schützend um einen gelegt hatte, und es hatte lange gedauert, bis so ein Winter-Ich entstanden war. Das Winter-Ich würde am liebsten eigentlich nur noch schlafen. Oder kekseessend ständig trinken und Filme mit schönen Farben gucken wie „Tanz der Vampire“ am Nachmittag. Und zwischendurch die alten Bilder besuchen im Jagdschloss Grunewald.

Vor ein paar Wochen schien die Stadt bzw. Kreuzberg noch in schwerer Depression zu liegen. Vielleicht hatte man aber auch die eigene mit der Gesamtstimmung verwechselt, zu viel Fernsehen geguckt und das stimmte gar nicht. Am Tag, als das Konto dann gesperrt worden war, wurde ich vom Weimarer „Radio Lotte“ zum Thema Jammern und Krise interviewt und reihte so lange deprimierende Geschichte aneinander, bis dass ich nur noch kichern konnte.

Wenn man jammert, wird es hell, zumindest wenn einen niemand unterbricht oder sich bemüht, die Geschichten, die man erzählt, zu toppen. Positives Jammern funktioniert am besten, wenn man die Adressaten des Jammerns nicht so gut kennt, aber sympathisch findet.

Arm und verschuldet warn wir doch eigentlich immer gewesen, wo ist das Problem, und die Stimmung ist eigentlich wieder ganz gut auf den Straßen, wenn man rausgeht. Lustige Kinder bewerfen einen mit Schneebällen oder trauen sich dann doch nicht, wenn man sie solidarisch angrinst und rufen einem stattdessen ein paar türkische Wörter hinterher – vermutlich Beleidigungen wie Opfer, Schlampe, Versager oder Toilettentieftaucher – und lachen dann. Am liebsten würde man auch alle Leute mit Schneebällen bewerfen.

Das Feuerwerk heißt „Hacker Attack“. Bei Lidl sind die Leute ausgesprochen höflich miteinander, auch wenn’s keine Bierdosen mehr gibt. Man sagt „Nach Ihnen“ oder „Darf ich Sie noch mal bemühen?“ zum Beispiel. Der freundliche türkische Edeka-Chef klopft einem auf die Schulter, nimmt einen beiseite; weil er denkt, man verstehe als Journalist was von Politik, sprechen wir kurz über Politik; heiter fast sagt er dann, er und seine Familie würden nicht mehr Schröder, sondern das nächste Mal Grün wählen.

Auf dem Bergmannstraßenfriedhof grüßt man sich plötzlich noch etwas linkisch wie Großstädter auf einsam-romantischen Wanderwegen kleiner Kurorte, in der Sauna in der Bundesallee reden alle miteinander und an der Bar las eine Angestellte eine Weihnachtserzählung vor, die im Ruhrgebiet spielte. Wenn man in der endlosen Schlange in der Post oder am Bahnschalter mit anderen über den tollen Service von Bahn bzw. Post meckert, geht es eher um den freundlich-mitmenschlichen Sprechkontakt als um die erstaunliche Unfähigkeit dieser Unternehmen. Es ist oft auch erstaunlich, wie leicht man sich verschätzt; Anfangs, am Ende dieser unglaublichen Schlange, hatte man noch ausgerechnet, dass das mindestens eine Dreiviertelstunde dauern würde, dann ist man doch nach einer Viertelstunde am Schalter gelandet. Und der Mensch am Schalter macht sogar höflich noch einen entschuldigenden Scherz.

Oft trifft man sich mit Freunden und spricht übers Leben, bevor man für zwei Tage von zu Hause nach zu Hause fährt oder gleich ganz zu Hause bleibt. Sentimental, real und wach ist man häufig betrunken. Die meisten bemühen sich, schön, höflich und aufmerksam zu sein. Manche haben sich verändert. Die Literaturwissenschaftlerin war plötzlich Lehrerin in Brandenburg geworden und sagte, an ihrer Schule wäre der deutsch- französische Austausch beendet worden, nachdem sich Schüler geweigert hätten, bei „Negern“ unterzukommen, die linken Schüler hielten sich zurück aus Angst vor den Rechten, und später schauten wir uns das Protokoll eines autonomen Streikseminars aus dem Winter 89 an. Es war um die Rolle der geisteswissenschaftlichen Studenten gegangen, ums Selbstverständnis des Intellektuellen, Bewusstseinsindustrie und lauter solche Sachen. Die Dozentin hatte gesagt: „Elfenbeinturm: ja! Nutzlosigkeit: ja! Elite: nein!“ Knapper und genauer lässt sich kaum zusammenfassen, was man damals so als komparatistischer Student gedacht hatte.

Später sprachen wir über Sozialhilfe. B., auch Freiberufler, sagte, es hätte etwas Befreiendes gehabt, zum Sozialamt zu gehen, sein Scheitern quasi offiziell einzugestehen. Es sei aber auch erniedrigend gewesen und er wäre froh, da nicht mehr hinzumüssen. Andere fanden es besser, sich von Freunden unterstützen zu lassen, weil das Gefühl direkter Verpflichtung auch Ansporn wäre, weil man denen ja auch irgendetwas zurückgeben kann. Selbst gemalte Bilder oder so.

Viele sprechen auch über ihre Elternhäuser und versuchen, einander zu übertreffen mit schmerzenden Geschichten aus der Kindheit oder Elternmarotten wie drei Tage mit ihren dreißigjährigen Kindern nicht mehr zu reden, das hast du nun davon! Auch 60-Jährige leiden an ihren erstaunlicherweise immer noch rüstigen Eltern. Die meisten Bekannten und Freunde kommen nicht aus Berlin und fuhren in die Provinz, um ein paar Tage bei ihren Verwandten zu verbringen. Busfahren ist übrigens angenehmer, wenn auch billiger als Bahn. Seltsam wie vieles, dass man seit fast zwanzig Jahren in Berlin wohnt und doch, wenn man gefragt werden würde, woher man käme, behauptete, man käme nicht aus Berlin, obgleich man doch de facto in Berlin eingestiegen ist, um dann in so einer Kleinstadt, deren Mechanismen einem fremd geworden sind, wieder auszusteigen.

Der Schnee im Hof ist braun wegen der Kohleasche, ab und zu brennt es oder man hört jemanden Leonard Cohen hören. Am schönsten fand ich eigentlich „69 Lovesongs“ von Magnetic Fields, „Since I met you“ von den Avalanches und „We love music“ von International Pony.

Die Zeit zwischen den Jahren muss man sich so vorstellen: Der 15. Dezember ist das Ende der Schlange, in die man sich stellt, und der Komiker am Schalter ist der 1. Januar. Oder diese Tage sind wie dieser kurze, unnütz-schöne Augenblick zwischen Abschied und Weggehen; man hat schon tschüss gesagt, einander angeguckt, sich die Hand gegeben und „bis zum nächsten Jahr dann“, steht aber noch einen Moment in der Tür.

Im Warmen ist man noch betrunken und auf dem Fahrrad in der Nacht wieder nüchtern mit Schnee im Gesicht.