Pünktlich kehrt die alte Euphorie zurück

Mit seinem Sieg beim letzten Weltcupspringen ist Vorjahressieger Sven Hannawald nach mäßigem Saisonstart wieder in die Rolle des Favoriten bei der Vierschanzentournee gehüpft, was Bundestrainer Reinhard Heß gar nicht so behagt

OBERSTDORF taz ■ Die Flugeigenschaften von Gänsen sollen hier nicht erörtert werden. Aber vielleicht hilft Gänsebraten, dass Skispringer weiter fliegen? Wer weiß, vielleicht erfahren wir es am Sonntag, wenn die Vierschanzentournee in Oberstdorf beginnt. Sven Hannawald, der Vorjahressieger, hat nämlich an Weihnachten zu Hause bei Muttern Gänsebraten verspeist. Mit dem Einverständnis des Bundestrainers Reinhard Heß. Lediglich ein paar Konditionsübungen zwischen Zimtstern, Stollen und Geschenken hat er seinen Schützlingen abverlangt.

Heß selbst versucht sich vor dem Start der Vierschanzentournee wieder als Bremser der Euphorie. „Meine Devise ist es, abzuwarten. Ich will keine allzu großen Erwartungen wecken“, sagt Heß. Noch vor zwei Wochen hatte man seinen Schützlingen bei der Schanzentour durch Deutschland und Österreich, die nach den Stationen Garmisch-Partenkirchen (1. Januar) und Innsbruck (4.) am 6. Januar in Bischofshofen endet, keine allzu großen Siegchancen eingeräumt: Sven Hannawald in der Formkrise, Martin Schmitt nach seiner Knieoperation noch nicht einsatzbereit. Doch nach Hannawalds Weltcupsieg in Engelberg genau eine Woche vor dem ersten Springen der Vierschanzentournee ist die Euphorie wieder da, die Frage lautet: Wird er wieder die Tournee gewinnen? „Spitzenleistung wird nun einmal verlangt“, seufzt Heß. Druck, so sagt er, mache sich seine Mannschaft schon selbst: „Wir trainieren ja nicht, um zwischen Platz 10 und 15 zu landen.“ Nur sei der von außen ausgeübte Druck eben manchmal ein wenig hoch. „Man kann nicht immer gewinnen“, versucht Reinhard Heß zu erklären, wenn Rechte-Inhaber RTL die Vierschanzentournee zum Duell der deutschen Skisprunghelden stilisiert. „Für mich sind die ersten acht eines Wettkampfes Weltspitze“, sagt Heß.

Wobei er natürlich gegen Siege seiner Springer überhaupt nichts einzuwenden hätte. „Bis zur Tournee kriegen wir das hin. Ich wünsche ihm, dass er gute Leistungen bringen kann“, sagt er zu den Fortschritten von Schmitt, der in Engelberg seine ersten Wettkämpfe der Saison absolviert hatte und sich langsam an die Form früherer Winter herantastet. Und zum Thema Hannawald, der im Vorwinter als erster Springer überhaupt alle vier Einzelspringen der Tournee gewinnen konnte: „Ich bin zuversichtlich.“ Hannawald musste wegen einer Knieoperation im Sommer lange pausieren, hat fast das komplette Sommersprungtraining verpasst. „Aber es stimmt wieder“, freute sich der 28-Jährige nach dem Sieg in Engelberg.

In der Weltspitze tummeln sich zurzeit viele Österreicher, dazu liest man Namen wie Sigurd Pettersen (Norwegen), von dem selbst eingefleischte Skisprungfans vor dieser Saison nur in Ausnahmefällen schon einmal gehört haben. Nach sieglosen Jahren in der Versenkung sind die Norweger wieder zurück im Kreis der Besten, auch die Japaner machen nach einer mäßigen vergangenen Saison wieder mit guten Ergebnissen auf sich aufmerksam. Im österreichischen Team scheint momentan jeder für einen Spitzenplatz gut: Ob es die arrivierten Springer wie Martin Höllwarth, Andreas Goldberger und Andreas Widhölzl sind oder bislang eher unbekannte Nachwuchstalente wie Mathias Hafele oder Andreas Kofler. „In Trondheim beim Weltcup hatten wir sieben Nationen unter den ersten zehn. Ich empfinde das als sehr gut für das Skispringen“, sagt Reinhard Heß.

Über den Rummel und das Interesse für Schmitt und Hannawald vergisst Heß nicht das restliche Team, wo sich einzig Michael Uhrmann mit seinen guten Leistungen zu Saisonbeginn ein wenig aus dem Schatten stehlen konnte und jetzt von einem Podestplatz bei der Tournee träumt. „Der letzte Kick nach vorne fehlt noch“, sagt Heß über die Nachwuchsleute im Team. Selbst Mannschaftsolympiasieger Stephan Hocke, der vor rund einem Jahr seinen ersten und bislang einzigen Weltcupsieg feiern konnte, ist derzeit nur Mittelmaß. Man muss also auf Sven Hannawald hoffen. Der erklärt zwar eifrig, dass er „bei null“ anfängt und die Siege des Vorwinters bei der 51. Auflage der Tournee keine Rolle mehr spielen, weit fliegen, so fordert das Publikum, soll er in diesem Jahr aber natürlich wieder. Ob dann der Gänsebraten oder doch das weihnachtliche Konditionstraining schuld war?

KATHRIN ZEILMANN