Kulturbanausen ohne Ketchup

Eiskalt und steif, jubelnd und pfeifend, lässig und heiter: Morgen vor 50 Jahren fuhr Hank Williams auf dem Lost Highway durch die Nacht in die Ewigkeit. Im November 1949 brachte er den Rock ‘n‘ Roll in den Berliner Titania-Palast. Ein Gedenkblatt

von FALKO HENNIG

Der genaue Todeszeitpunkt wird immer ungeklärt bleiben, vielleicht war Hank Williams schon tot, als er am 31. Dezember 1952 kurz vor 23 Uhr von Hotelangestellten auf den Rücksitz seines Cadillac getragen wurde. Er machte einen leblosen Eindruck, allerdings hörten ihn die Träger husten. Doch auch Tote geben oft hustende Laute von sich, wenn sie kurz nach ihrem Ableben bewegt werden. Jedenfalls war er bei Oak Hill, West Virginia, nach einer Fahrt durch die kalte Silvesternacht, eiskalt und steif, sein Fahrer fuhr ihn ins Hospital, wo er am 1. Januar 1953 gegen 7 Uhr für tot erklärt wurde. Hank Williams‘ von Alkohol und Drogen gesättigtes Leben war zu Ende. Er war 29 Jahre alt geworden und hatte mit seinem frühen Tod einen Standard für rebellische Musiker gesetzt, dem seitdem viele nacheiferten. Sein letzter Hit hieß: „I‘ll Never Get Out of This World Alive“.

Dass der Musiker 1949 als erster den Rock ‘n‘ Roll nach Berlin gebracht hatte, ist so gut wie unbekannt. Das ist nicht einmal sehr verwunderlich, seriöse Menschen hätten zu dieser Zeit kaum gewagt, auch nur zuzugeben, dass sie die ungehobelte Hillbilly-Musik mochten. Auch der Berlin Observer, die Zeitung für die Berliner Amerikaner, natürlich hauptsächlich GIs, hat in der Ausgabe vom 18. November nur den prosaischen Hinweis: „Grand Ole Opry with Roy Acuff, Minnie Pearl, Hank Williams and many others of the original hill billy stars will play Berlin tonight, Friday, November 18, at Titania Palast, at 8 p.m. Admission will be free.“ Kein Konzertbericht, kein Porträt, die deutsche Berliner Presse ignorierte das Ereignis gleich völlig. Countrymusik spielte noch keinerlei Rolle in der Öffentlichkeit.

Der Titania-Palast in Steglitz war damals der größte Veranstaltungsort der Stadt. 1928 eigentlich als Kino mit modernster technischer Ausstattung und eindrucksvoller Lichtwirkung eröffnet, war er auch für Konzert- und Theateraufführungen geeignet. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das unzerstörte Gebäude ein wichtiges Zentrum des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Berlin. Die Berliner Philharmoniker gaben hier wieder Konzerte, die Freie Universität gründete sich in diesem Haus, das auch Operettentheater und erster Berlinalestandort war.

Ähnlich wie auf dem Mitreisenden Little Jimmy Dickens wird Deutschland auch auf Hank Williams gewirkt haben: „Es war etwas deprimierend, diese schönen Städte zerbombt und eingeebnet. Eine Stadt so groß wie Detroit liegt einfach in Trümmern. Aber sie bauten sie selbst damals schon wieder auf.“ Das Konzert mit Hank Williams war Teil einer Europa Tour der Grand Ole Opry, der bis heute renommiertesten Veranstaltung der Countrymusik.

Der Ansager am Abend des 18. November musste die jubelnde und pfeifende Menschenmasse beruhigen: „Thank you very much, and a great big, ääh ...“, er ließ eine kleine Pause, um die Wirkung seines Witzes vor dem ausschließlich amerikanischen Publikum zu steigern: „Wie geht‘s?“ Er lachte selbst am meisten: „In other words: Howdy from grand ole opry.“

Hank Williams sang in Berlin, vom Publikum gefeiert, sein „Move It On Over“ von 1947. Der Song ist ganz ohne Zweifel dem Rock ‘n‘ Roll ununterscheidbar nahe, nimmt ihn auf vielerlei Weise vorweg. Das ist dem Text nicht so sehr zu entnehmen, der variiert das uralte Bluesthema des zurückgewiesenen Liebenden, der nicht mehr eingelassen wird und den Hund in der Hundehütte bitten muss, Platz für ihn zu machen: „Move over skinny dog ‘cause the fat dog‘s movin‘ in.“

Tatsächlich ist die Melodie uralt, eine Variante des Songs existierte als „Your Red Wagon“, eine andere wurde zu „Rock Around the Clock“. „Move It On Over“ weist nach vorn, man kann Bill Haley und Elvis Presley nur noch schwer für Begründer des Rock ‘n‘ Roll halten, wenn man diesen lässigen, heiteren Song hört.

Der Gitarrist Billy Robinson war mit unterwegs: „Hank war jeden Tag stocknüchtern. Sie hatten uns Befehle in Russisch zusammengestellt, falls wir uns verirrten und in den russischen Sektor gerieten. Hank sah auf das Blatt mit der russischen Schrift und sagte: „Zur Hölle, die werden niemals den nächsten Krieg gewinnen. Die können ja nicht mal buchstabieren.“

Hanks amerikanische Überheblichkeit zeigt sich auch in der Anekdote, an die sich Whitey Ford (the Duke of Paducah) erinnert: „Hank war ein schrecklicher Esser. Du konntest ihn ins feinste Gourmet-Restaurant bringen, er schüttete das Essen auf sein Tablett und sagte: „Hey, Herman, bring me the ketchup.‘ Das tat er in Deutschland in einem der besten Restaurants. Der Oberkellner sagte ihm, dass er keinen Ketchup haben könnte, und Hank hätte am liebsten das Lokal verwüstet.“

Musikalisch blieb es auch auf ihrem Rückflug, Billy Robinson: „Auf dem Rückweg landeten wir auf Bermuda zwischen zum Nachtanken. Als wir ankamen, flogen wir in ein Luftloch. Einige flogen richtiggehend durch das Flugzeug. Wir hatten uns irgendwo im Schwarzwald Kuckucksuhren gekauft, und die Uhren fielen in den Gang und machten diese ‚Kuckuck!‘-Geräusche.“

Manche Geschichten enden nie. 1966 wurde der traditionsreiche Titania-Palast geschlossen und 1969 zum Geschäftshaus umgebaut. Seit Mai 1995 gibt es hier wieder ein etwa 1.200 Personen fassendes Kino, in dem unter anderem der Hank-Williams-Film „I‘ll Never Get Out of This World Alive“ lief.