Anwerbeabkommen: In mehreren Heimaten zu Hause
60 Jahre Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei: Nach Berlin kamen viele Arbeitsmigrant*innen – und blieben.
Ihr Vater kam 1965 als sogenannter Gastarbeiter nach Berlin und arbeitete in einer Papierfabrik in Charlottenburg. Der beschönigende Begriff „Gastarbeit“ hatte System: Die Arbeiter*innen, vorwiegend Männer, sollten nach dem Zweiten Weltkrieg zum Arbeiten kommen, und nach maximal zwei Jahren sollten sie wieder zurück.
Laut Demir lernte ihr Vater die deutsche Sprache schnell und übersetzte für die anderen Kollegen. Deswegen wollte ihn sein Chef unbedingt halten und bot ihm eine seiner Wohnungen zu einem geringen Mietpreis an. Heute arbeitet Ayşe Demir im Vorstand des Türkischen Bund Berlin-Brandenburg.
Der Großteil der Arbeitsmigrant*innen wohnte nach der Ankunft in Deutschland in containerähnlichen Wohnheimen – meist unter schlechten Bedingungen in Doppelzimmern, mit Rigipsplatten als Trennwände und kleinen Gemeinschaftsbädern.
Von der Politik vergessen
Laut Demir hat die Politik in den sechziger Jahren verpasst, sich angemessen um die türkischen Arbeitsmigranten zu kümmern. Es habe keine Sprachkurse gegeben, die Arbeiter hätten oft unter schlechten Bedingungen gewohnt und es habe kaum Kontakt zu deutschsprachigen Menschen außerhalb der Fabriktore gegeben.
Zum Anlass des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens am 30. Oktober hat Demir bei einer Podiumsdiskussion am Mittwochabend auf Einladung der Berliner Integrationsbeauftragten mit Elke Breitenbach, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales und der Migrationsforscherin Manuela Bojadzijev über die vergangenen sechzig Jahre deutsch-türkischer Beziehungen gesprochen.
In diesem Rahmen kritisiert Demir auch das deutsche Wahlrecht. Da die Türkei kein EU-Staat ist, müssen türkeistämmige Menschen ihre türkische Staatsbürgerschaft ablegen, wenn sie die deutsche wollen. „Das ist mit Emotionen verbunden“, sagt Demir, „es ist klar, dass das vielen schwerfällt.“ Laut dem Landesamt für Statistik besitzen etwa 100.000 Menschen in Berlin die türkische Staatsbürgerschaft und dürfen sich deshalb auch nicht an den Kommunalwahlen beteiligen. Demir fordert die Möglichkeit der Mehrstaatlichkeit für türkeistämmige Menschen ohne deutschen Pass.
Bojadzijev betont bei der Diskussion, dass das Abkommen von türkischer Seite aus mindestens genauso sehr gewollt wurde wie von deutscher. „Mit dem Abkommen konnte man die Auswanderung aus der Türkei und die Einwanderung nach Deutschland regulieren“, sagt sie.
„Ich hatte auf keinen Fall geplant, hier alt zu werden“
Einer der ersten Arbeitsmigranten, der heute 72-jährige Durmuş Çakmak, ist in der Nähe der Stadt Tokat groß geworden, unweit vom Schwarzen Meer. Kurz nach seiner Ausbildung zum Schlosser kam er 1970 nach Berlin. Vor der Abreise musste er sich strengen medizinischen Untersuchungen unterziehen – von den Knochen über die Organe bis hin zum Urin. „Wir standen dabei zu fünft oder sechst nackt nebeneinander“, sagt er, „wir haben uns gefühlt wie Schweine.“
In Berlin angekommen, wurde Çakmak nach Spandau in eine Kabelfabrik geschickt, wo er im Dreischichtsystem arbeitete. Nach drei Wochen wollte er wieder zurück in die Türkei. „Ich habe mich alleine gefühlt“, sagt er. Für die Kündigung wollte die Firma aber laut Çakmak die 750 Mark erstattet haben, die sie für seine Anreise gezahlt hatte. Das konnte sich der damals 20-Jährige nicht leisten, also blieb er. „Ich hatte auf keinen Fall geplant, hier alt zu werden“, sagt der 72-Jährige.
Mittlerweile gefällt Çakmak Berlin. Seine Leidenschaft für das Theaterspielen konnte er in einem türkischen Studentenverein fortsetzen, das gab ihm Kraft. „Ich fühlte mich immer wohler“, sagt Çakmak. Der Frührentner spielt auch heute noch im Berliner Theater der Erfahrungen, ein Laientheater mit Darsteller*innen über fünfzig Jahren. In seinem Herkunftsland hat Çakmak ein Haus gebaut, wo er jedes Jahr zwei Monate verbringt.
Als er vor sechzig Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, ließ oft auch die eigenen Kinder zurück. Beide Elternteile arbeiteten in der Regel in Schichten – ohne Kitaplätze, denn diese waren vor allem für deutsche Staatsbürger*innen vorgesehen. Die Kinder wuchsen dann oft bei den Großeltern in der Türkei auf.
Noch immer diskriminierende Erfahrungen
Mittlerweile leben die Nachkommen der türkeistämmigen Arbeitsmigrant*innen in der dritten und vierten Generation in Berlin. Und trotzdem: Auch in ihrem Alltag musste Ayşe Demir schon oft Erfahrungen mit Diskriminierung machen. Diese stellt sie auch bei den nachfolgenden Generationen fest.
„Ich kann nicht verstehen, wieso sich Kinder der dritten Generation in der Schule für Erdoğans Politik rechtfertigen müssen“, sagt sie. Ihr liegt sowohl Deutschland als auch die Türkei am Herzen. „Ich habe mehrere Heimaten“, sagt sie, „auch wenn die Mehrzahl von Heimat nicht so geläufig ist.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative