Antidiskriminierungsgesetz statt Leitkultur: Grüne Einheit statt bunte Vielfalt?
betr.: „Grüne in Tumultikulti“ u. a., taz vom 1. 11. 00, „Wir wollen Vielfalt“ (Künast-Interview), taz vom 2. 11. 00
Es ist schon erstaunlich: Die Wirtschaft in Deutschland beginnt, Werbung auf Türkisch zu lancieren, deutsche Universitäten suchen händeringend nach ausländischen Studierenden und bieten ganze Studiengänge in Englisch an, lang schon sind die Musikszene und die Gastronomie in Deutschland mehrheitlich nicht deutschen Ursprunges, migrierte SchriftstellerInnen wie Rafik Schami oder Feridun Zaimoglu bereichern seit Jahren die deutschsprachige Literatur – und Grüne reden über das Ende von Multikulti.
Nun hat das Konzept der multikulturellen Gesellschaft sicher auch viele Lücken und Probleme, so wie es wohl keine problemlose Gesellschaft gibt. Warum versuchen Grüne einen Begriff zu demontieren, der mit ihrer Hilfe mühevoll in unserer Gesellschaft platziert wurde? Es zeigt eine gewisse Lust an der Selbstzerstörung, wenn im grünen Diskurs alte Begriffe nicht weiterentwickelt, sondern in hohem Bogen über Bord geworfen werden. [...] Die Kritik an Multikulti hört sich denn auch seltsam an: „unscharf“ sei der Begriff, sagt Renate Künast und sucht Abhilfe in so genannten „Leitlinien“. In der augenblicklichen Debatte fällt sofort die sprachliche Nähe zur „Leitkultur“ auf. „Das ist natürlich nicht gemeint“, sagt Frau Künast. Was denn? Diese Frage lässt sie weitgehend unbeantwortet. Tatsächlich ist die real existierende Gesellschaft multikulturell, ein buntes Wirrwarr von unterschiedlichsten deutschen und importierten Kulturen (seit wann wird hier eigentlich Halloween gefeiert?). Wozu wird hier „Leitung“ gebraucht? Bisher fiel den ProtagonistInnen von Leitlinien und Leitkultur wenig mehr ein, als Sprachkenntnisse und die Einhaltung des Grundgesetzes zu fordern. Das jedoch ist so selbstverständlich wie platt. Das Grundgesetz gilt für alle Menschen in Deutschland, MigrantInnen haben allerdings in feiner Abstufung weniger Teilhaberechte an unserer Gesellschaft und dafür mehr Pflichten. Unsere Verfassung schafft einen Rahmen, in dem sie explizit die Möglichkeit der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2) fordert. Es scheint heute nahe liegend, dass dazu die Auswahl unter unterschiedlichen Lebensstilen gehört. Darüber muss man nicht diskutieren. Auch darüber, dass hier lebende Menschen sich auf Deutsch verständigen sollen, ist wenig Auseinandersetzung notwendig. Allerdings sollte diese Forderung mit entsprechenden Angeboten an Deutschkursen verknüpft werden. Dies war in der Vergangenheit nicht der Fall. [...]
Die Vorsilbe „Leit“ impliziert etwas Besseres oder Stärkeres, eine Hierarchie. Das ist tatsächlich mit Multikulti, das ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Kulturen fordert, schwer in Verbindung zu bringen. Dabei wird allerdings verkannt, dass die (kulturellen) Unterschiede innerhalb der „deutschen Leitkultur“ wesentlich größer sind als der Unterschied zwischen einer statistischen Mitte von Deutschen und einer statistischen Mitte von MigrantInnen. Wird hier versucht, Probleme deutscher Identität in der Abgrenzung zu MigrantInnen zu suchen? Die Vermutung liegt nahe, dass einige Leitkultur-Politiker in der von ihnen geförderten globalisierten Ellenbogengesellschaft aufwachen und nun einen Sündenbock suchen. Hier wird an spezifische Bilder des Deutsch-Seins appelliert und Ressentiments gegen alles Fremde geweckt. Die an der Diskussion beteiligten Grünen mögen die Gefahr zwar noch sehen, treten dieser Entwicklung jedoch nicht klar entgegen. Wer sich jedoch, mit welchem Begriff auch immer, an dieser Leitkultur-Debatte beteiligt, fällt auf die Strategie der Rechten herein. Wer eine solche Debatte im Hinblick auf die Einwanderung fördert, wer immer wieder das Einhalten des Grundgesetzes fordert, der unterstellt MigrantInnen dem Generalverdacht, diese Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft nicht zu erfüllen.
Natürlich muss es in unserer Gesellschaft auch eine Debatte über Grenzen kultureller Toleranz geben, über die Frage, ob zum Beispiel Zeugen Jehovas ihren Kindern lebensnotwendige Bluttransfusionen verweigern dürfen oder wie viel Benachteiligung von Frauen innerhalb der katholischen Kirche hinnehmbar ist. Diese Diskussion hat aber mit Migration nichts zu tun. Oft sind es aber gerade die MigrantInnen, denen in Deutschland elementare Grundrechte, der Schutz der Menschenwürde, ja sogar der Anspruch auf körperliche Unversehrtheit nicht gewährt wird. Mit den Mechanismen der Identitätsfindung unter theoretischer und praktischer Ausgrenzung bestimmter Gruppen hat insbesondere Deutschland so schlechte Erfahrungen gemacht, dass es keinen Wiederholungsversuch geben darf. WOLFGANG FALLER, Mainz
[...] Zum Verfassungspatriotismus: Gegen die unheilvolle Erbschaft deutscher Leitkultur und deren fortgesetzte Drohungen gegen ein menschliches Zusammenleben, fehlt schon lange die Diskussion um ein allgemeines Antidiskriminierungsgesetz, welches die Grundrechte des Grundgesetzes praktisch im Alltag einklagbar macht: für Frauen, schwarze Deutsche, jüdische Deutsche (und auch Ostdeutsche, wenn sie als solche ethnisch diskriminiert werden), anders Befähigte, Lesben/Schwule und andere auf Grund einer Gruppenzugehörigkeit Diskriminierte. Das ist es, was eine Multikultur braucht, selbst eine Interkultur. Nur Leitkulturen wollen sowas nicht, daran sollte man sich nicht halten!
RUTH LUSCHNAT, Berlin
[...] Oft will mir scheinen, die Leitkultur der Deutschen kommt aus den USA. Englische Bezeichnungen gelten als chic; werden mitunter sinnig bis unsinnig gebraucht. So gibt es z. B. in Münster einen „Back Shop“. Dort kann man vermutlich entweder Rücken kaufen (gute Idee, wenn der alte schmerzt) oder alles zurückgeben.
Aber da der Begriff „Leitkultur“ von Herrn Merz (Dunstkreis der CDU) stammt, ist damit wohl die Pflege von schwarzen Kassen und Steuerhinterziehung gemeint. Bei den C-Parteien steht, soweit ich weiß, das C für Corrupt (Verwendung der englischen Übersetzung von korrupt, denn das klingt in deutschen Ohren einfach chicer...) ANGELIKA HAMLAOUI, Münster
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