Anti-Corona-Politik: Brennende Scheiterhaufen

Die bundesdeutsche Politik erweckt gerade mal wieder den Eindruck, die Covid-Pandemie werde nun aber bald besiegt sein. Davon kann keine Rede sein.

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Von UDO KNAPP

In den Niederlanden sind die Intensivstationen ausgelastet. Patienten werden zur Behandlung in die Bundesrepublik ausgeflogen. Die Zahl der Covid-Toten steigt. In den letzten sieben Tagen haben sich täglich mehr als 300 von 100.000 Bürgern mit dem Corona-Virus infiziert, das ist eine Inzidenz von über 300. In Frankreich, Belgien, in der Schweiz und in Schweden lag die Inzidenz in diesem Zeitraum jeweils bei weit über 200. In der Bundesrepublik lag sie am 1. Mai bei 165,5.

Auf Grundlage der Inzidenz werden Verschärfungen oder Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen festgelegt. In Holland, Frankreich, Belgien und der Schweiz werden die Anti-Corona-Einschränkungen trotz der hohen Zahlen und entgegen dem Rat der Wissenschaftler gelockert oder sogar aufgehoben. In Schweden dagegen werden sie entgegen der bisherigen Corona-Politik jetzt verschärft. In der Bundesrepublik werden die Corona-Regeln auch verschärft, entsprechend den Vorgaben des erweiterten Infektionsschutzgesetzes jetzt bundesweit einheitlich, aber lokal Inzidenz-abhängig.

Das heißt: Auch wenn in der EU der Impfstoff gemeinsam beschafft und verteilt wird, auch wenn gewaltige Wiederaufbauprogramme auf den Weg gebracht werden, am Ende macht jedes Land sein eigenes Ding.

Jedes Land macht sein eigenes Ding

Nur einen Tag nach dem Ende der Kakophonie der Bundesländer wurde sie von ihnen an neuen Fronten wieder aufgemacht. Im Saarland und in NRW sind die Geimpften und von Corona Genesenen von Anfang Mai an freigestellt von den Einschränkungen in ihrem Lebensalltag bis hin zur Aufhebung der Maskenpflicht. Öffnungen sind auf den Weg gebracht, obwohl die Zahl der (einmal) Geimpften im Land erst bei etwa 30 Prozent liegt und die Zahl der Voll-Immunisierten bei weit unter der Hälfte davon. Nicht verwunderlich, dass gerade ein Handel mit gefälschten Impfunterlagen aufgebaut wird.

Unbestritten ist, dass vor Herbst nicht mit einer Herdenimmunität zu rechnen ist, die das Alltagsleben absichert. Bei den Schulöffnungen machen die Länder nach wie vor, was sie jeweils für richtig halten, vom Wechselunterricht bis zur Aufhebung der Präsenzpflicht – obwohl die Rolle der Schulen als Infektionshotspots unbestritten ist. Hingenommen wird beim Geschrei über die angeblich verlorenen und sofort wieder zu gewährenden Freiheitsrechte, dass inzwischen 84.000 Menschen an oder mit Covid gestorben sind, dass das Sterben täglich weiter geht, jetzt auch von immer mehr Jüngeren. Hingenommen wird, dass die Überlastung der Intensivstationen, der Ärzte, Pfleger, der Covid-Reha-Einrichtungen und des gesamten Gesundheitssystems zunimmt. Gar nicht beachtet wird, dass die wachsende Zahl der an Long Covid-Folgen Leidenden täglich steigt.

Das öffentliche Impfen in den Impfzentren dagegen läuft immer besser, wird aber durch das konkurrierend kommunizierte Hausarztimpfen ins unübersichtlich Private hineingezogen, inklusive Streits über die Verteilung des Impfstoffes, der auch noch länger nicht in ausreichender Menge vorhanden sein wird. Die Politik erweckt mit aktionistischem Hin und Her den Eindruck, dass die Pandemie schon bald besiegt sein werde. Andere behaupten, wider alle Vernunft, Corona werde willkürlich aufgebauscht. Es sei lediglich ein perfides Instrument machtbesessener Politiker. Bald wird es vorbei sein mit der Pandemie, sagen die einen – jetzt sofort soll es vorbei sein, grölen die anderen.

Keine Grenzen können die Viren aufhalten

Fazit: Auch im Inneren der Republik macht jeder sein eigenes Ding.

Ist wirklich bald alles vorbei mit Covid? Davon kann keine Rede sein. Am 1. Mai gab es in Indien 3.500 Tote und 410.000 Neuinfizierte. Bilder zeigen brennende Scheiterhaufen auf Parkplätzen, zeigen die Sterbenden vor den Krankenhäusern in Bombay, weil es dort an allem Notwendigen fehlt, zeigen die Verzweifelten, die die Kosten für eine Impfung nicht aufbringen können.

Indien ist weit weg, aber die Covid-Viren nutzen die Erfolge der Globalisierung, keine Entfernungen, keine Grenzen können sie aufhalten. Unkompliziert vollziehen sie die Stärkung ihrer Infektionsfähigkeit, und das möglicherweise vorbei an allen immunisierenden Impfstoffen. Auf diese Herausforderung für die Zivilisation weltweit gibt es noch keine Antworten und abgestimmte Gegenstrategien schon gar nicht.

Politik und Gesellschaft müssen zur Kenntnis nehmen, dass es einen finalen Sieg über diese Pandemie nicht geben wird, dass es darauf ankommt, sich abwägend Terrain zu sichern zum Leben mit Covid und ähnlichen Bedrohungen. Dazu gehört der Abschied von einfachen Wahrheiten über die Chancen, die Pandemie womöglich endgültig zu besiegen.

Spiel mit dem Untergang

Die politischen Handlungsmuster für das Eindämmen des Covid-Virus sind seit dem Eindämmen der Pocken, der Kinderlähmung, der Masern und von Ebola bekannt. Zu den Instrumenten dieser Handlungsmuster gehören hohe öffentliche Investitionen in den Gesundheitsschutz, ordnungsrechtliche Instrumente, wie Impflichten für alle Bürger, die den Schutz jedes Einzelnen vor willkürlicher oder unbedachter Gefährdung durch andere sicherstellen, die diese Gefahren ignorieren oder leugnen. Dazu gehört, dass die sozialen Folgekosten der Pandemie in allen sozialen Sicherungssystemen gerecht verteilt werden, dazu gehört eine staatliche, steuerfinanzierte Gesundheitsforschung, die ex post und ex ante wissenschaftlich begründete Erkenntnisse für einen wirksamen Schutz entwickelt und in die Anwendung überführt. Dazu gehören internationale Verträge, die jenseits nationaler Egoismen verbindlich Verantwortung für die Gesundheit aller Menschen überall auf der Welt übernehmen.

Ein solches Strategietableau aber gibt es nur theoretisch. In der Wirklichkeit verwandelt Politikversagen die Menschen-Welt gerade in ein Mutationslabor für alle möglichen, kampfbereiten Covid-Viren. Aller aufgeklärten Philosophie der Vernunft, aller elaborierten Kommunikationsstrategien zum Trotz braucht die Zivilisation offensichtlich das Spielen mit dem Untergehen, bis sie die Kraft findet, einzuhalten und umzukehren.

Sicher aber ist das nicht.

UDO KNAPP ist Politologe. Er war der letzte Vorsitzende des SDS.

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