Anstand: Vom Sinn der Sitte
Pflegliches Miteinander oder soziale Abgrenzung? Die bundesweit erste Manieren-Ausstellung erforscht die Spielarten des guten Benehmens. Das Bremer Focke-Museum spannt dabei einen weiten Bogen über acht Jahrhunderte.
Der Senator grinst in die Kamera, in der Hand die Magnum-Flasche Schampus, vor ihm der begossene Obdachlose. 2005 ging das Bild durch die Republik: Peter Gloystein, der in Bremen immerhin als Bürgermeister, Wirtschafts- und Kultursenator sowie Weinfest-Eröffner agierte, musste umgehend zurücktreten. Jetzt kommt sein Konterfei im hiesigen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte wieder zu Ehren, der Kontext: eine Ausstellung über Manieren.
Gloystein, das lokale Gegenbeispiel für anständiges Verhalten - wobei er sich später sehr engagiert um den Schampus-geschädigten Obdachlosen gekümmert haben soll -, grüßt aus der Gegenwart in ein ganzes Arsenal von Verfehlungen und Vorschriften aus den verschiedensten Lebensbereichen. Der zeitliche Bogen der Ausstellung - es soll sich um die bundesweit erste museale Manieren-Aufarbeitung handeln - spannt sich zurück bis zum ersten auf Deutsch verfassten Benimm-Buch. Thomasîn von Zerclæres "Welscher Gast" von 1215/16, der nun in stark gedimmten Licht im Museum dämmert, sollte italienische Höflichkeit über die Alpen importieren. Thomasîn folgten eine schier unüberschaubare Menge von Verhaltensmaßreglern, deren mit Abstand bekanntester im Bremer Dom begraben liegt: der Freiherr von Knigge.
Gerade an Knigge lassen sich die inhaltlichen Pole der Ausstellung exemplifizieren, wenn auch über Kreuz: Zum einen geht es um gutes Benehmen als Zeichen sozialer Distinktion - wofür Knigge ganz gegen seine Absicht synonymhaft vereinnahmt wird -, zum anderen um soziales Verhalten als Ausdruck einer inneren Haltung. Bei den Distinktions-Manieren wiederum ist spannend zu beobachten, wie die entsprechenden Regeln flugs geändert wurden, wenn sie sich zu sehr verbreitet hatten, um noch als Unterscheidung zu dienen. Beispiel Kaffee: Während man ihn bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ausschließlich aus der Untertasse schlürfte - das eigentliche Gefäß diente nur als Reservoir für den Satz - führte der französische Hof plötzlich das Trinken aus der Tasse ein. Dieser revolutionäre Akt sicherte dem Hochadel wieder einige Jahrzehnte Benimmvorsprung, bevor das Bürgertum in seiner Breite nachziehen konnte.
Knigge hingegen, das arbeiten die KuratorInnen Uta Bernsmeier und Urs Roeber deutlich heraus, richte sich mit seinen philosophischen Verhaltens-Reflexionen von vorne herein an die "Menschen aller Arten und Stände". Das kann man offenbar auch über den berühmten Humanisten Erasmus von Rotterdam sagen, der lebenspraktische Weitsicht bewies: "Rücke nicht auf deinem Stuhl hin und her. Wer das tut, erweckt den Anschein, als ließe er seine Blähungen abgehen oder versuche es zumindest." Da fühlt man sich doch über die Jahrhunderte verbunden als Mensch unter Menschen.
Die Ausstellungsmacher illustrieren das Sitzproblem mit alten Kindermöbeln, die dem klandestinen Pups nur wenig Chance lassen: In ihrer Kombination aus langer Lehne und schmaler Sitzflächen zwingen sie zum bewegungslosen Geradesitzen.
Eines der neueren, verfälschenden Freiherrn-Surrogate ist der "Manager-Knigge": Er postuliert explizit Ansprüche an "vorbildliche Vorgesetzte": Launen seien ebenso zu vermeiden wie cholerische Anfälle. Direkt darunter lässt sich in Ton und Bild der berüchtigte Trappatoni-Auftritt von 1998 nacherleben: Der Bayern München-Trainer putzt darin seine Spieler derart runter, dass sein abschließendes "Ich habe fertig" als nicht zu toppendes Terminator-Urteil in den deutschen Sprachschatz einging.
Solche Gegensatz-Inszenierungen gehören zu den Stärken der Ausstellung. Zu ihren Schwächen muss man die gewisse Amorphität zählen, mit der die Fülle des Materials dargeboten wird. Sicher: 13 Themenbereiche wie "Galant", "Ausschweifend" oder "In der Öffentlichkeit" gliedern die Fülle der 200 Exponate in ungefähre Sinn-Zusammenhänge. Doch was der Ausschnitt aus einem Donald Duck-Comic mit einer daneben platzierten badischen Schandmaske des 17. Jahrhunderts zu tun hat, das muss in Besucher-Eigenarbeit ermittelt werden. Dann hat man's: Die Ente wird erniedrigt und gibt den Druck, getreu der alten Hierarchie-Regel des nach oben Buckelns und nach unten Tretens, an die Neffen weiter. So wie die bevormundeten Bürger, die ihren Frust an den zur Schau gestellten Delinquenten hinter der Schandmaske ausließen. Die Ausmaße dieser leicht futuristisch anmutenden Eisenblech-Konstruktion sind übrigens derart ausladend, dass das Stolpern und Gegen-die-Hauswand-Krachen des durch die Straßen getriebenen Opfers wohl gewollt war.
Man sieht: Eine Manieren-Ausstellung ist keine Angelegenheit für höhere Töchter, sondern fischt tief in den Abgründen der menschlichen Natur. Mark McGowan hat sich ihnen - den Abgründen, nicht den Töchtern - bewusst ausgesetzt: Der US-amerikanische Aktionskünstler kroch vor zwei Jahren über die New Yorker Bürgersteige. Vor dem Gesicht die George-W.-Bush-Maske, am Hintern einen Zettel mit den Worten "Kick my Ass". Dieser Aufforderung kamen bekanntlich derart viele Passanten nach, dass McGowan die Aktion vorzeitig abbrechen musste.
In der Bremer Ausstellung steht McGowans Selbstauslieferung in Dialog mit zwei Barockgemälden: Antonio Balestras "Alexander und die Leiche des Darius" zeigt den strahlenden Sieger, der den entblößten Körper seines Gegners, des Perserkönigs findet - und ihn achtungsvoll mit dem eigenen Mantel bedeckt. Beide Verhaltensalternativen sind bei Gaspare Traversi zu finden: Noahs Söhne reagieren auf seinem Gemälde sehr verschieden auf die Trunkenheit ihres Vaters nach überstandener Arche-Tour. Während der Jüngste hämisch auf den derangiert am Boden liegenden Alten deutet, zeigt der Ältere Anstand: Er verhüllt, womit das post-sintflutliche Menschengeschlecht gezeugt wurde.
Hier also, am Ende des Ausstellungsparcours, ist die Frage des Verhaltens vollends in ihrer moralischen Dimension angekommen. Ganz im Sinne des Freiherrn von Knigge, der nie ein Wort über Essmanieren verloren hat. Wobei es durchaus interessant ist zu erfahren, dass Tischdecken ursprünglich dem Hände-Abwischen dienten und Gabeln als weibisch verpönt waren. Zudem galten sie, ihrer Dreizackform wegen, als Instrument des Teufels. Schlecht erzogene Kinder sollen das heute noch so sehen.
"Manieren: Geschichten von Anstand und Sitte aus sieben Jahrhunderten" wird am Sonntag eröffnet und ist bis zum 30. Mai im Bremer Focke-Museum zu sehen. Das umfangreiche Begleitprogramm kann unter www.focke-museum.de abgefragt werden
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