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Aus taz FUTURZWEI

Annette Kehnel im Zukunftsgespräch Im Paradies wird kalt geduscht

Die Historikerin Annette Kehnel über zukunftsfähige Praktiken aus der Vergangenheit.

Professorin für Mittelalterliche Geschichte Annette Kehnel Foto: Anja Weber

taz FUTURZWEI: Liebe Frau Kehnel, eine Frage an Sie als Mittelalter-Historikerin: Gab es im Mittelalter überhaupt Zukunft?

Annette Kehnel: Zukunft im Mittelalter war die Aussicht auf Erlösung, mit allen Vor- und Nachteilen. Davor kam das Endgericht. Da musste man gradestehen für all das, was man zu Lebzeiten getan hat. Die Idee gefällt mir. Sie spiegelt die Hoffnung darauf, dass es am Ende dann doch gerecht zugeht auf dieser Welt. Im Grunde ist das die mittelalterliche Version des Verursacherprinzips. Wer Schaden anrichtet, muss dafür geradestehen und zahlen. Manchmal wird behauptet, dass es im Mittelalter keine Zukunft gab, weil die Endzeiterwartung alles blockiert habe, aber ich glaube, das Gegenteil war der Fall. Das Bewusstsein der Endlichkeit schärft das Gespür für Verantwortung in Bezug auf das eigene Handeln. Die Hoffnung auf eine bessere Welt war im Mittelalter ebenso da wie heute. Der Unterschied ist nur, dass sie in religiösen Bildern formuliert wurde.

Viele sagen, diese Verantwortung und damit auch Intergenerationalität, die Sie andeuten, hätten wir aufgegeben. Man glaube nicht mehr, dass es den Kindern mal besser gehen werde, und eine Klimaprotestbewegung nennt sich explizit »Letzte Generation«. Die gehen nicht mehr davon aus, dass nach ihnen noch groß etwas kommen kann.

Ich weiß, das ist kein Trost, und ich möchte die Situation nicht verharmlosen. Aber das ging schon vielen Generationen in der Geschichte so. Vielleicht nahmen die Menschen dieses Gefühl damals ernster. Ich weiß es nicht. Aber es gab in manchen vergangenen Gesellschaften mehr Anreize und auch eine größere Notwendigkeit zum generativen Verhalten. Man dachte in größeren Zeiträumen. Sowohl die Vorfahren, die Ahnen, die Toten wie auch die Nachkommen gehörten zu der »Gemeinschaft der Lebenden und der Toten«. Wir haben ja heute diese Hic-et-nunc-Perspektive der Quartalszahlfixierung total vergoldet, wir denken nur im Hier und Jetzt. Damals gab es Anreize, sich zugunsten der nachfolgenden Generationen zu verhalten.

ANNETTE KEHNEL

Die Frau: Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim mit einem Schwerpunkt in der Wirtschaftsgeschichte der Vormoderne.

Geboren im Breisgau. Lebt in der Pfalz.

Das Buch: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit. Karl Blessing Verlag 2021 – 496 Seiten, 24 Euro

Das taz FUTURZWEI-Gespräch fand per Zoom statt.

Was war das genau?

Mein Lieblingsbeispiel ist das Fegefeuer.

Hm.

Die Idee kommt aus dem 12. Jahrhundert und ist total interessant. Dem Ganzen liegt die Vorstellung zugrunde, dass man nach seinem Tod eben nicht direkt in Himmel oder Hölle kommt, sondern in einen Zwischenraum, wo man die Chance hat, Sünden wieder gutzumachen, indem man Buße tut. Heute würde man sagen: seinen negativen Fußabdruck bereinigen. Das Purgatorium war tatsächlich ein Ort der Reinigung. Und jetzt kommt's: Die Idee war, dass die Gnadentaten der Vorfahren mit dem eigenen Verhalten verrechnet werden können.

Warum war das Anreiz für enkel- oder zukunftsfreundliches Verhalten?

Weil man im 13. Jahrhundert auf die Idee kam, dass Gebete der Nachfahren die Verweildauer der Verstorbenen im Fegefeuer verkürzen könnten. Und wenn ich die Lebensgrundlage der nachfolgenden Generation zerstöre, dann kann keiner für mich beten, und so kann mich auch keiner mehr aus diesem Ort befreien.

Das Fegefeuer ist also ein intergenerationelles Verrechnungsbüro?

Es ist ein Ort der Gnade, eine Möglichkeitsraum der Wiedergutmachung.

Was lernen wir aus dem Mittelalter über Nachhaltigkeit?

Nachhaltigkeit war in der Vergangenheit ein Must have. Wir haben es im 20. Jahrhundert zu einem Nice to have gemacht. Die Frage ist, wie trainieren wir die Fähigkeit zum langfristigen und zum generationenübergreifenden Denken? Ich meine das nicht nur im Sinne von »meine Kinder sollen es mal besser haben als ich«. Die Frage ist doch, wie wir dafür sorgen, dass unser fantastischer blauer Planet ein menschenfreundlicher Ort bleibt.

»WIR WOLLEN DOCH ERINNERT WERDEN ALS MENSCHEN, DIE IN BEZIEHUNGEN GELEBT HABEN, VON KINDERN UND ENKELN, DIE UNS LIEBEVOLL ERLEBT HABEN.«

Annette Kehnel

Ist die menschliche Lebensform auf Generativität angewiesen? Und haben wir ein riesiges Problem, wenn wir das gar nicht mehr praktizieren?

Klar, das ist ein katastrophaler Sinnverlust, darunter leiden ja die meisten Menschen. Wir wollen doch erinnert werden als Menschen, die in Beziehungen gelebt haben, von Kindern und Enkeln, die uns liebevoll und fürsorglich erlebt haben. Das Bedürfnis nach generationenübergreifenden Beziehungen ist sehr groß.

Die Liberalisierung, Emanzipierung, Individualisierung war ja eine Vorwärtsbewegung, die als Fortschritt verstanden werden wollte: sich lösen von Bindungen, die als beklemmend und einschränkend empfunden wurden, darunter die Familie. Sagen Sie, dass wir uns hier auf den Weg in die Zukunft von gestern oder in die Vergangenheit machen müssen?

Nein! Bitte nicht! Wenn sie das vorhaben, dann bleib ich hier.

Was bringt denn dann der Blick in die Geschichte?

Sie schult den Möglichkeitssinn. Da geht es nicht um Vergangenheitsverklärung, sondern um Zukunftsdenken. Nehmen Sie die oft beschworene idyllische Mehr-Generationen-Großfamilie. Ich komme selbst aus einer. Das war weit weg von romantischem Zusammenleben. Und das war im Mittelalter auch nicht besser, und auch nicht im protestantischen Pfarrhaus des 19. Jahrhunderts, wo sie vermutlich erfunden wurde, diese Idylle. Die Spannungen und Konflikte zwischen den Generationen gehören nun mal zum Leben. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Lebensformen der Verbindungen unter Generationen einem ernst zu nehmenden Bedürfnis entsprechen. Und natürlich war Familie über Jahrtausende hinweg unabhängig von genetischer Verwandtschaft. Die Römer adoptierten munter drauf los, im Mittelalter war die Patenschaft ganz wichtig, in Irland war die Pflegekindschaft die Norm, das heißt, Kleinkinder wurden in Pflegefamilien zur Erziehung gegeben, eine mittelalterliche Familie bestand wohl in den seltensten Fällen aus Vater-Mutter-Kind-Kind.

»Wir denken nur im Hier und Jetzt«: Annette Kehnel in einem Flur des Mannheimer Barockschlosses, in dem die Uni Mannheim untergebracht ist Foto: Anja Weber

Patchwork-Familien?

Ja. Natürlich war das Sterblichkeitsrisiko der Frauen bei der Geburt ein entscheidender Punkt. Die Wahrscheinlichkeit, von den genetischen Eltern erzogen zu werden, war eher gering. Ammen waren normal. In allen Schichten. Kinder gehörten zum Haushalt, wenn sie da waren, nicht weil sie die gleichen Gene hatten. Dieses Verständnis von Familie gab es im Mittelalter nicht. Ich habe mich viel mit der Geschichte der Klöster beschäftigt. Schwerpunkt Irland. Auch das Kloster war eine »familia«. Wir denken heute sofort an fromme, zölibatär lebende Mönche oder Nonnen. Aber da gehörten ja viel mehr Menschen dazu, die dort lebten und arbeiteten. Und immer auch Kinder. Entweder als Schülerinnen und Schüler, andere wurden als Säuglinge auf die Stufen des Klosters gelegt und dann in der Gemeinschaft erzogen. Das war eine Form des Familienlebens. »Blut ist dicker als Wasser« und all solche Sprüche, das sind Schimären des 19. und 20. Jahrhunderts, die unser Bild vom Zusammenleben der Generationen total verzerrt haben.

Heißt?

Das heißt, ich befürworte eine totale Öffnung des Familienbegriffs und der Formen des Zusammenlebens. Irgendjemand sagte mal: Familie – das sind Menschen, die ihre Gene und ihre Freizeit teilen. Ich denke, die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Das war im 20. Jahrhundert mal kurzzeitig das Ideal, aber wir sind weiter. Familie ist Zusammengehörigkeit, auch jenseits von genetischer Verwandtschaft, und selbst gemeinsame Interessen sind nicht entscheidend. Entscheidend ist die geteilte Zeit. Lebenszeit, Geschichten, Erfahrung. Ich habe mich mit Beginen beschäftigt, den Gemeinschaften von Frauen, die im 13. Jahrhundert ganze Stadtviertel bebauten und dort gemeinsam lebten.

Religiöse und karitativ orientierte Laiengemeinschaften.

»DIE SEHNSUCHT NACH DIESER PHASE PARADIESISCHER FÜLLE DURCH BILLIGES ÖL, DIE WOHNT IN UNSEREN KÖPFEN.«

Annette Kehnel

Ja und nein. Es gab kein Gelübde. Es war eine Gemeinschaft auf Zeit. Es gab kein Gemeinschaftsbesitz. Eine reiche Begine konnte mit ihrer Magd in einem eigenen Haus wohnen, während andere in Wohngemeinschaften zusammenlebten. Jede ging ihrer eigenen Arbeit nach. Aber man teilte Lebenszeit und war als Teil einer Gemeinschaft stärker und besser vernetzt denn als Single. Diese Lebensform hat erstaunlicherweise derzeit eine absolute Renaissance. In Köln gibt es große Beginen-Gemeinschaften. Das Architekturbüro PPL baut grade einen Beginenhof in Berlin-Kreuzberg. Da tut sich was. Da entstehen ganz neue Räume für alte und doch ganz neue Lebensformen.

Die Sehnsuchtsfolien der inneren Verbindung, durch Familie, Sippe, Stamm, Nation werden ja jetzt leider hauptsächlich von reaktionären Populisten und dahin drängenden Konservativen bedient. Wie kann man die Bedürfnisse in eine liberal-emanzipatorische Zukunftsgeschichte einbringen?

Mein Kollege Patrick Geary aus Princeton hat über diese Formen des Zusammenhalts auf nationaler Ebene geforscht und nennt das 19. Jahrhundert mit seinen Konstruktionen und Visionen der Geschichte eine riesige Giftmüllhalde. Sein Buch heißt The Myth of Nations. Die jungen Nationalstaaten brauchten eine Geschichte. Das war wichtig im 19. Jahrhundert, um die damals moderne nationalstaatliche Ordnung zu stabilisieren. Doch leider entfalteten die damit getriggerten nationalen Identitäten ziemlich toxische Wirkung – unbeabsichtigte Nebenfolgen sozusagen. Das 20. Jahrhundert zeigt, welch große Zerstörungen und Vernichtungen damit angerichtet wurden. Jetzt haben wir das gleiche Problem wieder. Als Historikerin muss ich sagen: Das sind Narrative aus dem 19. Jahrhundert, damals waren sie sinnvoll, um eine funktionierende Staatlichkeit aufzubauen.

Aber?

Heute sind sie dysfunktional geworden. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, Globalisierung und Klimakrise, ignorieren nationale Grenzen.

Warum kommt die nationale Perspektive mit so viel Macht zurück? Obwohl die Zeit vor den Nationalstaaten ja weitaus länger war?

Wir haben die Macht der Bilder unterschätzt, die das 19. Jahrhundert bereitstellte. Was Benedict Anderson als »imagined communities« bezeichnete, als »vorgestellte Gemeinschaften«, beruht auf Symbolen gemeinschaftlicher Stärke und Größe. Nationalismen gaukeln eine Form der Zugehörigkeit und Orientierung vor, die derzeit immer noch in der Auslage liegt. Da kann sich ein machthungriger Charismatiker mit politischen Ambitionen leicht bedienen. Ein Kollege aus der Kommunikationswissenschaft hat mal gesagt: Es gibt eine Sache, die ich als Individuum nicht herstellen kann, und das ist Normalität. Normalität beruht immer darauf, was der Konsens ist. Und in Gesellschaften, in denen Zugehörigkeitskonsense über nationale oder regionale Zugehörigkeiten formuliert werden können, da riskieren wir auch die Gefahr des Missbrauchs.

Wir haben jetzt also die Zukunft einer eigentlich vergangenen Zeit?

Viele Zukunftsträume und Visionen ähneln jedenfalls denen des 19. Jahrhunderts. Und vor allem der Nachkriegszeit.

In ihrem Buch Wir konnten auch anders sagen Sie direkt auf der ersten Seite: Wir versuchen, die Probleme unserer Gegenwart mit den Lösungen der Moderne zu bewältigen. Was meinen sie damit?

Ich glaube, die Zauberformel vom Fortschritt, Wohlstand und Wachstum ist ein Traum von gestern. Die Zeiten des Wirtschaftswunders und die Nachkriegszeit haben tiefe Prägungen hinterlassen. Christian Pfister, ein Wirtschaftshistoriker aus der Schweiz, sprach vom 50er-Jahre-Syndrom – die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die globalen Märkte mit billigem Öl geflutet wurden und die Rohstoffpreise fielen. Und wenn Rohstoffe nichts mehr kosten, dann sind die Produkte, zu denen sie verarbeitet werden, auch nichts mehr wert. Sie werden zu Wegwerfprodukten. Diese paradiesische Fülle, die dadurch kurzzeitig entstanden ist, hat sich eingeprägt – und zwar nicht nur in der Generation, die das erlebt hat, sondern auch in den nächsten Generationen. Bestimmte Haltungen vererben sich ja auch kulturell. Die Sehnsucht nach dieser Phase, wo es immer bergauf ging, die wohnt nicht nur in unseren Köpfen, sondern ist essenziell für das Funktionieren der Wirtschaft.

»Viele Zukunftsträume ähneln denen des 19. Jahrhunderts oder der Nachkriegszeit«: Historikerin Kehnel im Antikensaal des Mannheimer Schlosses mit Castor und Pollux aus der griechischen Mythologie im Hintergrund Foto: Anja Weber

Wo sollen wir denn jetzt hindenken?

Richtung Lebensqualität statt noch mehr Wohlstand und Wachstum.

Doch nicht etwa kürzer oder kälter duschen?

Soll gut sein für die Haut. Die Kriegsgeneration hat selbstverständlich verzichtet, aber für ihre Nachkommen wurde Verzicht zu einem Unwort. Anders kann man sich nicht erklären, dass die halbe Nation plötzlich ein Recht auf Warmduschen einklagt. Historisch gesehen war Verzicht oder Mäßigung eines der Erfolgsrezepte für ein gutes Leben. Wir können da bei den griechischen Philosophen anfangen und bei mittelalterlichen Klöstern weitermachen. Askese ist eine Einübung in Lebensformen, die langfristig gesehen, große Lebensqualität ermöglichen. Im Paradies wird kalt geduscht.

Dieses 50er-Jahre-Syndrom ist die Utopie der Grenzenlosigkeit – richtig? Darin hängen wir ja bis heute fest. Man kann aber sagen: Die Grenzen und die Entwicklung eines Verhältnisses dazu sind eigentlich das Emanzipierende. Wie könnte man die Anerkennung von Grenzen schmackhaft machen?

»DAS WIRTSCHAFTSWUNDER WAR EIN MASSIVER RÜCKSCHRITT FÜR DIE EMANZIPATION.«

Annette Kehnel

Einerseits, indem man Wasser in die Suppe der Grenzenlosigkeit gießt. Was bedeutete denn Grenzenlosigkeit in Zeiten des Wirtschaftswunders? Da war ziemlich viel Mief und Verklemmtheit. Und ein massiver Rückschritt in Bezug auf Emanzipation, weil die Frauen zurück in den Haushalt gedrängt wurden. Die Grenzenlosigkeit des Wirtschaftswunders war zu großen Teilen eine Grenzenlosigkeit der Unternehmen. Und die mussten neue Märkte erschließen für ihre Produkte. Hausfrauen waren eine der wichtigsten Kundengruppen. Wer hätte denn sonst all die Staubsauger, Trockenhauben, Putzmittel, Tupperware et cetera kaufen sollen? Grenzenlosigkeit kann ganz schön viel Enge produzieren. Weil die Frauen wieder zurück in ihren vermeintlich ursprünglichen Platz am Herd zurückgedrängt wurden. Die Weimarer Republik war schon viel weiter, hatte ganz andere Lebensmodelle für Frauen.

Das heißt?

Die vermeintliche Grenzenlosigkeit hat eine Konformität, die nicht viel mit Individualismus zu tun hat. Man kann schon mal drüber nachdenken, warum griechische Philosophen vor 2.000 Jahren die Selbstbeherrschung zur höchsten Kunst erklärt haben. Um ein glückliches und gutes Leben zu führen, muss ich mich selbst in den Griff bekommen. Da gibt es die ganz klassisch platonischen Kardinaltugenden wie Mäßigung, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Weisheit.

Es wird aber halt auch argumentiert, dass die privilegierten Philosophen von gestern und heute meist gut reden haben und das Predigen von Mäßigung an Leute, die eh nicht viel haben, nur dem Machterhalt der Privilegierten und der Unterdrückung der Unterdrückten diene.

Die Frage ist, wer uns das einredet. Ich frage mich, ob es wirklich ein Menschenrecht auf Billigflüge oder Kreuzfahrten gibt. Irgendwann wird sich diese Frage von selbst beantworten. Dann wird es keine Urlaubsparadiese mehr geben, wo wir hinfliegen können, weil wir sie zerstört haben. Heute gilt man ja schon als unterdrückt, wenn ein Veggie Day in der Kantine eingeführt werden soll. Herr Merz ...

... der Chef der oppositionellen Union ...

... bedient häufig solche überzogenen Opfernarrative. Es ist aus meiner Sicht unverantwortlich, wenn statt Wertschätzung für wichtige Schritte in eine neue Zukunft plötzlich ein Menschenrecht auf »So haben wir das immer gemacht!« gepredigt wird.

»Das Bewusstsein der Endlichkeit schärft das Gespür für die eigene Verantwortung«: Annette Kehnel Foto: Anja Weber

Die emanzipatorische Linke und die Alt-Linke sind ja auch Vertreter des Opfernarrativs. Wo sind denn die Leute, die die Errungenschaften der liberalen Demokratie zukunftstauglich machen wollen – und dafür auch selbst Opfer bringen?

Die Frage wird irgendwann nicht mehr sein, ob wir die Errungenschaften verteidigen. Die Frage wird sein, ob wir überleben können, und vor allem, ob und wie unsere Kinder in der Lage sein werden, ein hohes Alter zu erreichen. Dazu kommt jetzt die Aufdrängung von Opfernarrativen, die natürlich auch Angst schüren, welche wiederum nicht zu besseren Entscheidungen führt, sondern zu schlechteren. Wir müssen positive Zukunftsszenarien schaffen.

Dann wollen wir jetzt eine positive Zukunft von Ihnen hören, Frau Kehnel. Bitte.

Hm. Was können wir lernen aus der Vergangenheit? Die gute Nachricht: Menschen können Veränderung. Klar, sie haben auch Angst davor, aber noch größer ist ihre Lust auf Neues. Und da zahlt sich der lange Atem aus. Ich habe bei den Lesereisen im letzten Jahr so viele tolle Projekte kennengelernt. Zum Beispiel Bürgerenergiegenossenschaften. Rabenkopf in Ingelheim, da sind Leute seit dreißig Jahren dabei, ihre Energie dezentral und nachhaltig selbst zu produzieren. Hochprofessionell und technologisch absolut vorn, aber dennoch galten sie lange Zeit als nicht konkurrenzfähig, wurden belächelt und nicht ernst genommen. Und jetzt sind sie plötzlich die Kings. Die einzigen, die nicht kalt duschen müssen!

»HERR MERZ BEDIENT HÄUFIG ÜBERZOGENE OPFERNARRATIVE.«

Annette Kehnel

Das heißt, es gibt eine eingelöste Zukunft von gestern, die eine Zukunft von morgen sein kann?

Das klingt sehr kompliziert.

Anders gefragt: Was ist Ihre Vision einer Zukunft von morgen?

Mehr Vertrauen in die menschliche Fähigkeit, Krisen zu bewältigen. Die Hauptfeinde der Innovation sind oft die Experten der alten Technologien und Fortschrittsvisionen. Was wir brauchen, sind neue Ideen von Fortschritt. Nehmen wir das Beispiel der negativen Emissionstechnologien. Das ist ja eine gute Idee, Maschinen, Staubsauger, die CO2 aus der Atmosphäre ziehen. Dabei vergisst man ganz: Es gibt sie ja längst, bewährte Maschinen zur Rückholung von CO2, die noch dazu frischen Sauerstoff produzieren. Sie heißen Bäume. Doch viel schneller und effizienter, als die neuen Technologien entwickelt werden, zerstört man die vorhandenen Bäume tagtäglich. Wir brauchen auch soziale und politische Fortschrittstechnologien, um das zu verhindern. Da müssen wir weg von kurzsichtigen Imitationen alter Ideen. Dieses Imitationsprinzip sieht man am deutlichsten beim Verbrennungsmotor.

Der wird doch ausrangiert?

Henry Ford hat angeblich mal gesagt: Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde. Käme er heute hier vorbei, würde er sich wundern. Wir wollen einfach nur bessere Motoren, optimierte Verbrenner, Elektromotoren oder Wasserstoff, ganz egal. Das ist im Grunde total rückwärts gerichtet. Wie wäre es mit Zukunft? Wie wäre es mit Mobilität neu denken, unsere Städte neu erfinden, Landwirtschaft revolutionieren, unsere Welt neu denken? Warum setzten wir unsere Ressourcen, unsere Intelligenz und unsere Technologie nicht dafür ein, etwas wirklich Neues zu entwickeln?

Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Dieser Beitrag ist im Dezember 2022 in taz FUTURZWEI N°23 erschienen.