Annabelle Hirsch Air de Paris: Inzwischen scheint das einstmals als grotesk Verlachte einfach nur schlechte Realität zu sein
In letzter Zeit habe ich immer öfter das Gefühl, wir seien in einer distopischen Zukunftssatire gelandet. Einer Art Scherz. Einem dieser Momente in alten Filmen, in denen der Held oder die Heldin den Fernseher einschaltet und die Sprecher dort Berichte des Wahnsinns, des Alle-gegen-alle-Kampfes auf den Straßen vorlesen und Bilder des totalen Chaos abspielen. Damals dachte man wohl, unsere Gesellschaften seien so zivilisiert und klug, dass so etwas niemals vorkommen würde. Deshalb fand man es lustig. Heute ist es, als sei das damals Groteske, einfach die sogenannte Realität. Nehmen wir die letzten paar Wochen in Frankreich. Die gingen in etwa so: „Demos gegen die Rentenreform!“ Metro streikt, Anwälte streiken, Schüler streiken, das Krankenhauspersonal und so weiter. „Der En-Marche-Kandidat für das Bürgermeisteramt von Paris hat einer Frau, die nicht seine ist, ein Video seines Penis geschickt!“ Ein russischer „Künstler“ hat es online gestellt. Als „Anklage“ gegen die „Verlogenheit und Prüderie der Machthaber“. Immerhin hat sich der Kandidat als Familienmensch, als Vater, als Ehemann präsentiert. „Der Russe ist ein Spion! Nein! Die Empfängerin ist eine Spionin! Nein! Macron und seine Leute haben das eingefädelt, um den untauglichen Kandidaten loszuwerden.“ Diskreter geht so was ja auch nicht.
Die französische Literaturbranche ist ein Pädophile schützendes Pack. Die französische Filmbranche auch. Feministinnen verbieten Kinobesuchern den Zutritt zu Roman Polanskis neuem Film „Intrige“. „Intrige“ ist trotz der Vergewaltigungsvorwürfe gegen Polanski für zwölf Césars, die französischen Oscars, nominiert. Die Akademie der Césars ist despotisch. Die Akademie tritt zurück. Coronavirus-News im Sekundentakt: Tote, Angesteckte, betroffene Regionen. „Wascht euch dreihundertmal am Tag die Hände! Gebt euch bloß nicht die Hand! Küssen verboten!“ Supermärkte werden leergeräumt. Apotheken auch. Für die anderen soll bloß nichts bleiben, Nächstenliebe ist out. Macrons Rentenreform wird von der Regierung mit dem Artikel „49.3“ durchgeboxt.
Die Schauspielerin Adèle Haennel steht während der Verleihung der Césars auf, als Roman Polanski den Preis für die beste Regie gewinnt. Sie ruft „La honte“, schämt euch! Haennel wird zum viralen Star. Die Schriftstellerin Virginie Despentes aka „la boss“ schickt einen Artikel hinterher, in dem sie Rentenreform und den Polanski-Fall vermischt. Alles Zeichen der männlichen Unterdrückung, meint sie, ab jetzt schauen Frauen nicht mehr höflich zu: „Wir stehen auf und verpissen uns.“ Der Satz wird zum Kampfspruch. Sie löst Begeisterung aus. Und Empörung. Irgendwer kramt einen alten Artikel aus, in dem sie ihre kurzfristige Liebe für die Kouachi-Brüder, die Charlie-Hebdo-Attentäter, gesteht.
Bernard-Henri Lévy fragt sich, warum während der Zeremonie eigentlich nur jüdische Sexualstraftäter ausgelacht wurden und nicht einer wie der mehrfach für Vergewaltigung angezeigte Islam-Wissenschaftler Tariq Ramadan. Der Essayist Pascal Bruckner schreibt, die César-Zeremonie stehe ganz klar für einen neuen Antisemitismus. Tatsächlich müsste der Satz der Zeremonienmeisterin und Komikerin Florence Forestie, die „Intrige“, „J’accuse“, als einen „Film über die Pädophilie in den siebziger Jahren“ vorstellt, alle noch halbwegs klar denkenden sehr irritieren.
Es geht darin, Polanski hin oder her, um einen der größten Justizskandale des Vorkriegsfrankreich, einen Mann, der ohne jeden Beweis, aus rein antisemitischen Motiven des Hochverrats angeklagt wurde. Es geht um den Verlust von Verstand und Gerechtigkeit. Aber solche pingeligen Feinheiten sind im Schlagabtausch wahrscheinlich egal. Die Nachrichten werden alle mit der gleichen Hysterie und Verve vorgetragen und aufgenommen. Mittelmäßig Wichtiges fühlt sich mittlerweile an wie ein historischer Umbruch. Manchmal wünsche ich mir, das alles sei nur ein lustiger Film. Eine Satire.
Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Paris.
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