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■ Anläßlich des tschetschenischen FeldzugsEine kurze, vergleichende Politologie

Radio Erewan existiert leider nicht mehr. Wenn es noch senden würde, käme es unvermeidlich auf die Frage: „Worin unterscheidet sich die Türkei von Rußland?“ Die Antwort sähe ungefähr so aus: Erstere führt Krieg gegen ein Volk, das für seine Autonomie kämpft, um diese zu verhindern. Letzteres bombardiert ein schon bestehendes autonomes Gebiet, das sich als souveräner Staat versteht. Sowohl Kurden als auch Tschetschenen werden ihre Ziele in absehbarer Zeit kaum durchsetzen können. In beiden Ländern ist mit Terrorismus seitens der bedrängten Opfer zu rechnen, der den Staat schwächen und die demokratischen Reformen erschweren wird.“

Tatsächlich unterscheiden sich die Türkei und Rußland in vieler Hinsicht tief voneinander. Militär und Geheimdienst der Türkei sind perfekt in ihren militärischen Aktionen und Überfällen auf Oppositionelle, während die demoralisierte russische Kriegsmaschinerie den Widerstand der Tschetschenen im Amoklauf und unter großen Verlusten in den eigenen Reihen zu brechen sucht. Zahlreiche russische Offiziere und Soldaten verweigern die Befehle oder ergeben sich den Rebellen. Es gibt keine Nachrichten darüber, daß diese Offiziere bestraft oder an ein Militärgericht überstellt worden wären. In der Türkei unterliegt das kurdische Problem der Zensur, in Rußland ist es dem Geheimdienst FSK und der Militärseilschaft um Jelzin nicht gelungen, die Berichterstattung aus Tschetschenien zu unterbinden. Eine Gruppe von Moskauer Parlamentariern war eine Woche lang im Bunker Dudajews: Sie nutzten alle Mittel, um über das Desaster in Grosny zu berichten.

Gesellschaftliche Organisationen wie das „Komitee der Soldatenmütter“ sind im Grenzgebiet; sie bemühen sich um die gefallenen und verletzten Soldaten. Der Staat und seine Gewaltaktionen zeichnen sich durch tiefe Ohnmacht aus: die „alte Garde“ aus der Provinz-Parteinomenklatura und aus den Gewaltministerien greift auf die traditionellen Methoden der Abschreckung zurück, ist aber unfähig, sie konsequent durchzusetzen. Sie bekommt den Bumerang, den sie losgeschickt hat, wieder zurück. Der wild um sich schlagenden Gewalt fehlt auch nur die Spur einer Legitimation. Die totalitäre Inszenierung endet mit einer beispiellosen Blamage. Die Türkei ist indes ein klassischer autoritärer Nationalstaat, getragen vom nationalistischen Konsens der Bevölkerung. Zwischen der alten zerfallenen Großmachtmentalität der russischen Elite und dem neuen Pragmatismus liegt ein durch alle Institutionen gehender Riß, der vom tschetschenischen Feldzug voll ans Licht gebracht worden ist. Die tragischen Ereignisse in der kaukasischen Republik könnten ein Ende der Reformen und eine neue Diktatur mit sich bringen. Diese Schlußfolgerung liegt nahe: russische Oppositionelle, die in letzter Zeit ziemlich schlecht abschneiden, und denen demnächst ein Wahlkampf bevorsteht, wissen die Gesellschaft und den Westen davon zu überzeugen. Der russische Amoklauf bietet auch Gelegenheit, eigene politische Ziele durchzusetzen, das Gerede über Nato-Erweiterung usf. geht wieder los – wie der Teufel aus der Tabaksdose. Die baltischen Staaten verfallen in gut kalkulierte Empörung, Polen „hat wieder Angst“.

Eine Erklärung wäre allerdings fällig, wem die Nato bis dato eigentlich geholfen hat? Immerhin der Türkei, die als Nato-Mitglied Waffen aus Deutschland erhält, die letztendlich gegen die Kurden eingesetzt werden. Europa beschäftigt sich ziemlich halbherzig mit den dortigen Menschenrechtsverletzungen; es bedurfte eines Prozesses gegen kurdische Parlamentsabgeordnete, um den Abschluß der Zollunion mit der Türkei zu verhindern. Manchmal ist es hilfreich, an das Maß für die eigene moralische Empörung zu erinnern. Die Wirren in Rußland bieten eine Gelegenheit dazu.

Die gegenwärtige Situation in Rußland ist sehr ernst. Wenn man von der politischen Instrumentalisierung der Ereignisse sowohl durch die an die Macht drängende russische Opposition als auch durch Europa oder die USA einmal absieht, dann erscheint der ruhmlose Feldzug der verrosteten Militärmaschinerie als das Nachhutgefecht einer sich selbst demontierenden Stütze der alten Ordnung. Sonja Margolina

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