Animalische Ohnmacht

Authentischer Beleg usbekischer Vergangenheitsbewältigung: Der Roman „Das Jahr des Skorpions“ von Uchqun Nazarov. Lesung mit Einführung in die zentralasiatische Literatur in der W 3

von PETRA SCHELLEN

Keine Frage, dieser Autor polarisiert: Gleich in den ersten – scheinbar idyllischen – Landschaftsbeschreibungen schimmert die Not der Bewohner durch; gleich zu Beginn kommt die Rede auf Brotmarken-Knappheit und andere Insignien realsozialistischen Mangels.

Und genau hierin unterscheidet sich der usbekische Autor Uchqun Nazarov vom Mongolen Galsan Tschinag, den man im selben Atemzug nennen könnte, widmen sich doch beide den Umbruch zur Moderne. Nur dass Tschinag (Jg. 1944), der in Leipzig Germanistik studierte, seither auf Deutsch publiziert und heute in Ulan Bator wohnt, wesentlich dezenter vorgeht: Nur verhalten konkurriert der Umbruch hier mit nomadischem Jurten-Idyll. Überaus vernünftig fügen sich die Protagonisten etwa im Roman Der blaue Himmel in die neue Zeit, in der die Kinder aus der Jurte heraus zur Schule gehen und nur bei ihren Besuchen ein wenig fremdeln. Ein paar Großmutter-Tränen fließen, aber die stören auch nur wenig.

Insgesamt also ein sanfter, west-kompatibler Roman, der atmosphärisch wenig gemeinsam hat mit Uchqun Nazarovs kantigem Das Jahr des Skorpions, deutsch erschienen in diesem Jahr im Berliner Dagyeli-Verlag. Der Schauspieler und Synchronsprecher Wolfgang Caven wird jetzt – im Rahmen der Reihe „Zentralasien in der Zerreißprobe“ der Werkstatt 3 – daraus rezitieren; Mario Pschera vom Dagyeli-Verlag bietet zudem eine kurze Einführung in die neuere zentralasiatische Literatur.

Aus verschiedenen Handlungssträngen webt der 1934 in Taschkent geborene Nazarov, der zu den bekanntesten usbekischen Filmregisseuren zählt, die Geschichte um den Opportunisten und Kriegsgewinnler Murod Khoja, der seine Verbindungen zu Politik, Geheimdienst und Polizei des Sowjetstaates nutzt, um allen das Leben schwer zu machen. Im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs spielt der Roman um den „Skorpion“, der sich an Freund und Feind bereichert, Existenzen zerstört, Menschen ihrer Habe beraubt und bedenkenlos „Volksfeind“-Anklagen und Einberufungen fingieren lässt, wenn ihm jemand im Wege ist.

Andererseits betont Nazarov selbst immer wieder, dass im Zentrum seiner Werke Frauen und ihre stark beschnittenen Lebensmöglichkeiten stünden. Ursache hierfür sei vor allem die Doppelmoral, die auch die meisten Nazarovschen Protagonisten prägt. Krass konturiert Nazarov im Jahr des Skorpions deshalb den Leidensweg dreier Frauenfiguren: Da ist Muqaddas, des „Skorpions“ Tochter, die, obwohl schwanger, gewaltsam vom Geliebten getrennt und anderweitig verheiratet wird; ihr Freund wird unter mysteriösen Umständen kurzfristigst an die Front gerufen.

Weiteres Opfer ist Zahro, nicht standesgemäße Geliebte von „Skorpion“-Sohn Masud, die sich nach Vergewaltigung und Folter im Gefängnis erhängt. Und schließlich Oynisa, deren Hof leider dem „Skorpion“ gefällt, weswegen er sie in ein fernes Dorf transportieren lässt. Ihr Pech: Ihr zweiter Mann, vormals Kolchos-Vorsitzender, wird unter fingierten Sabotage-Vorwürfen nach Sibirien verfrachtet, als sich privates Glück abzuzeichnen beginnt.

Ohnmacht regiert in des „Skorpions“ Umgebung, animalisch fast. Daneben wuchert Aberglaube: Sogar der „Skorpion“ lässt seine Blutvergiftung lieber von einer Heilerin als vom Arzt behandeln.

Abgründe offenbart der großteils in Taschkent spielende Roman. Für die usbekische Gesellschaft ein zweifellos wichtiges Element der Geschichtsverarbeitung: Das Buch war in Usbekistan sofort vergriffen. Zudem versteht sich Nazarov als Autor, der als Mahner zu fungieren hat.

Doch so packend die Lektüre auch ist – es stellt sich die Frage, wie der durch Solschenizyn längst aufgeklärte Westen mit dem Buch, das vor Schwarz-Weiß-Charakterisierungen nicht zurückschreckt, umgehen will. Denn es als überholt zu bezeichnen, klänge eine Spur zu überlegen. Neu in Konstruktion und Stil ist der Roman allerdings nicht. Aber authentischer Beleg aktueller usbekischer Vergangenheitsbewältigung. Den man vielleicht einfach wertfrei zur Kenntnis nehmen könnte.

Uchqun Nazarov: Das Jahr des Skorpions. Berlin 2002; 292 S., 19,80 Euro. – Lesung: Donnerstag, 21. November, 19.30 Uhr, W 3