Anhörung zu Schul-Inklusion: Rückenwind für Rabe-Plan

Experten befürworten Idee einer pauschalen Mittelzuweisung für lernschwache Kinder. Ein Problem ist die hohe Belastung der Stadtteilschulen.

Bekommt theoretische Unterstützung: Schulsenator Ties Rabe. Bild: dpa

Welche Diagnostik brauchen lernbehinderte Kinder? Darüber wurde am Freitagabend bei einer Experten-Anhörung des Schulausschusses gestritten. Zwei der drei zum Thema "Inklusion" geladenen Wissenschaftler sprachen sich für den Plan von SPD-Schulsenator Ties Rabe aus, die Zusatzförderung für Kinder in den Bereichen "Lernen, Sprache, soziale und emotionale Entwicklung" (LSE) künftig "systemisch" zuzuweisen.

In Hamburg hat seit 2010 jedes Kind das Recht, eine normale Schule zu besuchen. Doch damit fallen auch jährlich hunderte von Gutachten an, die oft noch vor der Einschulung erstellt werden. Denn die Mittel für ihre Zusatzförderung bringen die diagnostizierten Kinder per "Rucksack" an die Schule mit - so regelte es die Vorgänger-Regierung.

Unstrittig ist dieses Rucksack-Prinzip für Kinder mit klassischen Behinderungen wie Sinnesschädigungen. Doch bei LSE-Beeinträchtigungen, die gehäuft bei Kindern aus armen Verhältnissen und Einwandererfamilien feststellt werden, ist es umstritten. Wenn die Mittel für die Unterstützung von den Kindern bewegt würden, erzeuge das "keine inklusive Haltung", warnte Erziehungswissenschaftler Rolf Werning von der Leibniz-Universität in Hannover.

Laut UN-Konvention von 2009 dürfen alle Kinder eine allgemeine Schule besuchen.

In Hamburg gilt das seit 2010 - beginnend mit den Klassen 1 und 2 sowie 5 und 6, wo die Integrationsquote von 15 auf 60 Prozent stieg.

Die Zahl der Diagnostizierten im Bereich Lernen, Sprache, Entwicklung (LSE) stieg von 4,1 auf 6,6 Prozent der Schulkinder.

Wissenschaftler empfehlen, den Schulen drei Stunden pro LSE-Kind pauschal zu geben und dies je nach sozialer Belastung der Schule zu variieren.

Es komme zu steigenden Zahlen, mancher Lehrer lasse sogar "ein Kind erst ins Messer laufen", damit er ein Gutachten anfordern kann. Das Etikett einer Lernbehinderung sei stets mit negativem Effekt behaftet, führe zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

Hamburg müsse überlegen, was es mit seinen Sonderschulen macht, ergänzte Professor Ulf Preuss-Lausitz von der TU-Berlin. "Es gibt die Neigung, durch Diagnostik Standorte zu sichern." Das sei "nicht mal böser Wille".

Beide Wissenschaftler sagten, es sei "gesichert", dass in Förderschulen nicht die beste Förderung erreicht werde. Es fehle der Beleg, dass die bisherige Exklusion den Kindern nütze.

Für das Rücksack-Prinzip sprach sich dagegen der von der CDU geladene Wissenschaftler Bernd Ahrbeck aus. Dies mache Sinn angesichts "gering vorhandener Resourcen". Eine differenzierte Förderung sei nur möglich, "wenn es eine klare Diagnostik gibt". Diese Notwendigkeit nehme "auch mit der Inklusion nicht ab".

Eine Diagnostik und "individuelle Förderpläne" werde es weiter geben, hielten Preuss-Lausitz und Werning dagegen. Zu Schulstart beispielweise wurde bei allen Kindern "Lernausgangslagen" geprüft und Förderbedarfe analysiert. Eine Diagnose allerdings müsse immer unmittelbar mit einer Förderung verbunden werden. Werning sprach von einem "zirkulären Prozess". Sein Kollege Preuss-Lausitz würde drei mal im Jahr die Diagnosen überprüfen.

Von Wissenschaftler-Warte gibt es also Rückenwind für Ties Rabe, der bis Weihnachten sein Inklusionskonzept vorstellen will. In der Praxis bleiben allerdings Fragezeichen. Der ebenfalls als Experte geladene Schulleiter Pit Katzer warnte vor einer Überforderung der Stadtteilschulen. Diese hätten ohnehin einen hohen Anteil lernschwacher Schüler.

Es drohe eine "Negativ-Kreislauf", bei dem die noch verbliebenen leistungsstarken Schüler ans Gymnasium wechseln. Inklusion in eine schwache Lerngruppe sei "fatal", pflichtete Werning ihm bei. Man müsse sicherstellen, dass die Gruppen "hinreichend stark sind". Das Problem: Gymnasien beteiligen sich bisher nur an "zielgleicher" Inklusion, etwa von Kindern im Rollstuhl, die Abitur anstreben.

Das müsste nicht so bleiben. Martin Eckert vom Elternverein "Leben mit Behinderung" verwies auf das Gymnasium in Bad Segeberg, das seit Jahren auch behinderte Kinder mit anderen Lernzielen aufnimmt. "Man muss es nur machen."

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