: Angst vor den Ärgerern
■ Was eine Scheidungswaise fühlt, wenn die Eltern über ihr Kind hinweg nur noch Terminabsprachen ausmachen – ohne es zu fragen
Dieses Protokoll diktierte ein 10jähriger seiner Therapeutin in den Block. Die Mutter von „Augustinchen“, wie der Junge sich nennt, hat die Familie vor sieben Jahren verlassen. Seit zwei Jahren geht Augustinchen in eine Therapie. Wenn er dort von sich berichtet, verwendet er oft die weibliche Form. Die seelischen Narben, die eine Scheidung beim Kind hinterlassen kann, werden auch durch Augustinchens zerrissene Sprache belegt.
„Eigentlich heiratet man, wenn man sich liebt. Wenn man dann ein Kind bekommt und es wird zwei Jahre alt und man scheidet sich, dann leidet am meisten das Kind.
Das Kind leidet so: Es wird älter und sieht die Mutter beziehungsweise den Elternteil nicht mehr. Wenn das Kind dann die Mutter sieht, beziehungsweise der Vater das Kind dahin fährt und da absetzt und sagt ,Geh' jetzt zu deiner Mutter, sie wohnt im Hinterhof unter ..., du kannst doch unseren Namen schon lesen‘. Denn das Kind weiß nicht, wie seine Mutter aussieht und weiß nicht ihren Namen. Wenn das Kind dann klingelt und die Frau dann sagt ,Hallo, Augustine, ich kenn' dich ja kaum noch‘, wird das Kind dann verängstigt?
Die Mutter kennt das Kind nur durch Fotos und weiß durch den Vater, daß Augustine kommt und vom Vater wieder abgeholt wird. Augustine geht herein, das Telefon klingelt, Vati ruft an, Mutti geht ran. Dann darf Augustinchen auch mal ans Telefon. Sie sagt: ,Du Papi, hier ist eine Frau, die kennt mich, rufst Du deshalb an?‘
Das Kind wächst weiter, gewöhnt sich dann an die Frau und sagt jetzt nicht mehr Sie, sondern du. Das Kind wird älter, kommt in die Schule und lernt und wird trauriger, weil Mutti nicht zu Hause wohnt. Sie fragt Papi, warum Mutti nicht zu Hause wohnt. Vati gibt ihr kaum Antwort, darum wird die Konzentration überbelastet, so daß es zu Schwierigkeiten in der Schule kommt. Dann kommt sie in eine andere Schule, wo sie sich dann abregen soll. Dazu kommt es aber nicht, weil sie weder die Konzentration (wiedererlangt, Anm. d. Red.) noch die Wutausbrüche abstellt, sondern verschlimmert. Augustinchen hat es nicht geschafft.
Nun bleibt Augustinchen nichts anderes übrig, als in ein Heim zu gehen. Augustinchens Wutausbrüche kommen mehr aus Angst als aus Wut, weil sie mehr Angst als Wut hat vor den Ärgerern und den Auslösern der Wutausbrüche. Augustinchens Vater redet, redet, redet, redet noch einmal. Augustinchen hört nicht, sie möchte auch nicht in ein Heim. Aber jetzt hat sie keine Wahl mehr, weil sie die Chance nicht genutzt hat.
Augustinchens Mutter weiß von nichts. Sie ruft Augustinchens Vater an und will Augustinchen am nächsten Sonnabend sehen. Der Vater sagt zu Augustinchens Mutter, Augustinchen ist nicht da. Zwei Wochen später ruft sie noch mal an. Der Vater sagt, sie ist nicht da. So geht es zwei Monate.
Sie sollen diskutieren, ob es richtig ist, daß Augustinchens Vater nicht sagt, wo Augustinchen ist. Augustinchen denkt, das hast du dir selbst zu verdanken, warum hast du nicht früher aufgehört, Wutausbrüche zu kriegen.“
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