Angst vor dem Verfolger: "Und dann ist er wieder da"
Andrea Schultz berät Frauen, die von Stalkern bis in die letzte Ecke ihres Lebens verfolgt werden. Die Mittel der Täterinnen und Täter reichen von Rosen jeden Freitag bis zu Morddrohungen. Die Opfer leben häufig in völliger Isolation und Hoffnungslosigkeit
taz: Der unbekannte Verfolger, der einer völlig verängstigten Frau nachstellt - das kennen wir alle aus dem Fernsehkrimi. Wie sieht denn Stalking im echten Leben aus, Frau Schultz?
Andrea Schultz: Interessanterweise ist da auch bei den Betroffenen die Unsicherheit groß: "Werde ich überhaupt gestalkt?" Das höre ich bei der Beratung immer wieder. Manche Frauen kommen mit Taschen voller Dokumente und wollen mir beweisen, dass sie tatsächlich verfolgt werden. Aber mir muss niemand etwas beweisen. Ich glaube den Frauen.
Gibt es Fälle, bei denen die Verfolgung nur eingebildet ist?
Ganz selten - und das merke ich ziemlich rasch im Gespräch. Wenn sich eine Frau von allen schwarzhaarigen Busfahrern Berlins beobachtet fühlt, dann ist das sicher kein Stalking.
Stalking in Berlin
Zahlen: 2010 erfasste die Polizei 2.153 Stalkingfälle. Fast 80 Prozent der Tatverdächtigen waren Männer. In 80 Prozent der aufgeklärten Fälle kannten sie ihr Opfer. Die Gestalkten waren zu 80 Prozent weiblich (Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin 2010).
Strafen: Seit 2007 wird "Nachstellung" laut Paragraf 238 Strafgesetzbuch mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet, wenn der Täter einen anderen in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt. Außerdem können Stalkingopfer ein Kontakt- bzw. Näherungsverbot erwirken.
Beratung: Stalkingopfer können sich an die Beratungsstelle Stalking Opferhilfe Berlin in Prenzlauer Berg (soh-berlin.de) oder das Frieda-Frauenzentrum in Friedrichshain (frieda-frauenzentrum.de) wenden. Im Frieda-Frauenzentrum informiert am 13. Dezember eine Expertin über Cyberstalking, also Stalking über das Internet. Beratung für Menschen, die selbst stalken, bietet das Projekt "Stop Stalking" in Steglitz (stop-stalking-berlin.de). (mah)
Wo fängt Stalking an?
Im Englischen leitet es sich von dem Wort "nachschleichen" oder "anpirschen" ab. Nach meiner Definition ist Stalking ein Verbrechen, bei dem eine Person gegen meinen Willen ständig in meinem Leben präsent ist.
Ein Beispiel bitte …
Wenn ein Expartner einige Wochen lang versucht, den anderen mit verschiedenen Mitteln zurückzugewinnen, dann mag das normal sein. Aber irgendwann ist eine Grenze erreicht. Wenn Frauen unmissverständlich sagen, ich will keinen Kontakt mehr, und der andere hört trotzdem nicht auf, dann ist das Stalking.
Also sind es vor allem verletzte Männer, die ihre Expartnerin stalken?
Keineswegs. Es gibt auch Männer, die gestalkt werden. Wir beraten hier aber nur Frauen. Ich habe Fälle, da werden Frauen von ihrer Expartnerin, von den Schwiegereltern, der Mutter, der Professorin, von Arbeitskollegen oder Bekannten aus dem Fitnessstudio belästigt.
Und von Fremden?
Das ist sehr selten. Aber manchmal haben die Frauen lange Zeit keine Ahnung, wer sie stalkt. Sie finden zum Beispiel immer wieder Zigarettenasche vor der Tür und wissen, da hat nachts jemand vor meiner Wohnung geraucht. Ganz bedrohlich wird es, wenn sie merken, da war einer in meiner Wohnung, hat vielleicht sogar in meinem Bett gelegen. Ich kenne einen Fall, da hat der Stalker immer wieder benutzte Damenbinden auf den Küchentisch gelegt. Das schürt solche Angst - irgendwann sieht die Frau in allem eine Nachricht des Stalkers.
Gilt das nicht auch für Sie? Schließlich beschäftigen Sie sich jede Woche mit Stalking.
Ich glaube, mir könnte man etwas auf den Schuh kleben, und ich würde es übersehen.
Sie wurden noch nie gestalkt?
Doch. Einmal hat sich eine Stalkerin auf mich verlagert. Diese Professorin, die ihre Studentin verfolgt hat, rief irgendwann hier an: "Sie haben aber eine nette Telefonstimme". Und dann stand sie plötzlich in der Beratungsstelle. Mich erschreckt das nicht, ich kann mich gut abgrenzen. Aber die Frauen, die ich berate, werden über Monate oder sogar Jahre verfolgt. Sie sind dadurch verunsichert, klein, zermürbt, zerbrochen und krank.
Gibt es typische Stalkingopfer?
Es kann prinzipiell jeden treffen. Das sehen Sie doch an den Stars: Ich glaube nicht, dass Michelle Hunziker oder Emma Watson die typischen Opfer sind. Aber Menschen, die sich schwer abgrenzen können, sind eher betroffen. Wenn zum Beispiel eine Frau von ihrem Expartner gestalkt wird, dann lag häufig schon in der Beziehung etwas im Argen. Da musste die Frau die Handtücher bügeln und genau auf Kante im Schrank platzieren, durfte ihre beste Freundin oder ihre Eltern schon Jahre nicht mehr besuchen. Und am Ende der Beziehung sagt der Partner: "Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich keiner haben". Dann wird es gefährlich.
Wie gefährlich?
Das ist unterschiedlich. Alle gestalkten Frauen stehen unter enormem Leidensdruck, werden zumindest psychisch misshandelt. Lebensbedrohlich sind die Stalker mit ansteigendem Gewaltpotenzial. Die fangen an, Briefchen zu schreiben, anzurufen, die Tür einzutreten, die Katze an den Baum zu nageln, das Auto zu zerstören. Das ist nicht zu unterschätzen.
Sie bieten eine regelmäßige Stalkingberatung an, außerdem den Austausch in einer Selbsthilfegruppe und Informationsabende. Wie viele Frauen kommen denn jeden Monat?
Um die fünf. Manche kommen nur ein einziges Mal, andere in unregelmäßigen Abständen immer wieder. Bei vielen ist die Hemmschwelle aber sehr hoch.
Die Frauen schämen sich?
Ja. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass ihr eigenes Umfeld, die Polizei und Anwälte ihnen nicht glauben. Oder sie bekommen Sachen zu hören wie: "Freu dich doch, wenn du jeden Freitag Rosen geschickt bekommst." Es ist dann ein absolutes Aha-Erlebnis, wenn ich sage: "Das, was mit Ihnen passiert, ist Stalking, und das ist ein Verbrechen."
Welche Möglichkeiten haben die Frauen?
Seit 2007 ist Stalking ein eigener Tatbestand im Strafgesetzbuch, und die Täter können belangt werden. Aber bis das greift, ist es ein sehr langer Weg. Ich rate den Frauen, die Belästigungen genau zu dokumentieren, um sie vor der Polizei oder vor Gericht als Belege anführen zu können. Das ist schwer, weil die Frauen ja gerade nicht ständig an die Verfolgung denken wollen. Aber so kann man ein Näherungsverbot erwirken, bei stärkeren Bedrohungen sogar eine Gefängnisstrafe für den Täter.
Reicht das aus, um die Täter abzuschrecken?
Wenn alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, ist das schon gut. Aber letzten Endes kann man verbieten, einsperren - und dann? Nach zwei bis drei Jahren kommt der Täter wieder raus und hatte viele Tage Zeit, um sich zu überlegen, was er als Nächstes macht.
Was bleibt dann noch: untertauchen?
Zum Beispiel. In einigen besonders schweren Fällen hat man die Frauen "sterben" lassen. "Social death" nennen wir das: Alle Spuren einer Person werden verwischt, und sie zieht in eine andere Stadt. Mir stellt sich da die Frage: Was macht eine Hartz-IV-Empfängerin mit vier Kindern - die kann nicht einfach umziehen. Und häufig findet der Stalker eine Lücke: Irgendwo in der Korrespondenz mit Anwälten und Gerichten taucht doch die neue Adresse auf. Und dann ist er wieder da.
Das klingt verdammt hoffnungslos.
Für viele fühlt es sich auch genauso an. Es gibt Frauen, die kriechen nur noch durch die Wohnung aus Angst, beobachtet zu werden. Tragen Kopfhörer, um das Telefon nicht mehr zu hören. Sie entwickeln massive Ängste, reden mit niemandem mehr. Viele denken an Selbstmord. Manche gehen zu ihren stalkenden Expartnern zurück.
Tatsächlich? Weil die Bedrohung dann beherrschbarer erscheint?
Richtig. Eine Partnerschaft mit Gewalt oder Erniedrigung erscheint diesen Frauen erträglicher, als jeden Tag darauf zu warten, dass der Stalker an der nächsten Hausecke steht. Mein Ziel ist es, dass die Frauen sich irgendwann fragen: "Moment mal! Was lasse ich da eigentlich mit mir machen?" Das ist der erste Schritt.
Wütend werden auf den Stalker?
In gewisser Weise. Viele Frauen fühlen sich im wahrsten Sinne des Wortes wie das Kaninchen vor der Schlange. Nur einmal stand bei einer Veranstaltung eine Frau auf und fragte, wo sie eine Pistole kaufen kann, um sich zu schützen. Aber das ist natürlich keine Lösung.
Was raten Sie den Frauen stattdessen?
Aus der Isolation heraustreten, sich das Umfeld ins Boot holen. Man kann beim Fitnessstudio sagen: "Wenn dieser Typ kommt, ruft die Polizei." Oder mit Nachbarn, dem Arbeitgeber, den Kollegen sprechen. Ich entwerfe mit jeder Frau eine Strategie: Was passiert zum Beispiel mit der Post? Die muss jemand kontrollieren, um ein steigendes Gewaltpotenzial des Täters zu erkennen. Aber das kann eine Freundin übernehmen. Im Zweifel machen wir das.
Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit der Perspektive der Gestalkten. Spielen der Täter und seine Motive überhaupt keine Rolle?
Ich versuche im Gespräch schon herauszubekommen, wie der tickt. Aber nur, um zu beurteilen, wie gefährlich er werden kann. Ansonsten gibt es für Stalker extra Beratungsstellen, auch hier in Berlin. In Nürnberg hat man gute Erfahrungen damit gemacht, die Täter aufzusuchen und mit ihnen zu reden, weil manchen offensichtlich gar nicht klar ist, was sie anrichten. Aber die, deren Lebensziel das Stalking ist, die erreicht man damit nicht.
Ich muss an den französischen Film "Wahnsinnig verliebt" aus dem Jahr 2002 denken. Der erste Teil zeigt die Perspektive einer jungen Frau - wie sie immer wieder abgewiesen und verletzt wird. Im zweiten Teil offenbart sich, dass sie eine Stalkerin ist und einen Mann verfolgt, der ihr nie Anlass zur Hoffnung gegeben hat. Aber sie wertet zufällige Zeichen als Liebesbekundungen.
Das ist ganz typisch. So denken die Stalker: Wenn sie heute den grünen Schal trägt, dann ist das ein Zeichen, dass sie an mich denkt. Wenn Guido Westerwelle im Fernsehen die rechte Hand hebt, dann liebt er mich noch. Und so weiter.
Das ist doch eine psychische Erkrankung!
Ich wehre mich dagegen, das als Krankheit abzutun und den Stalkern damit eine gewisse Schonung einzuräumen. Stalking ist eine Straftat. Die Leidtragenden sind die Gestalkten.
Haben Sie Angst um die Frauen, die Sie beraten?
Bei mindestens einer weiß ich: Wenn der Kerl sie erwischt, dann kann alles passieren.
Wie viel von diesen Schicksalen nehmen Sie nach der Arbeit mit nach Hause?
Manchmal denke ich noch in der U-Bahn darüber nach, was sich manche Stalker einfallen lassen. Aber wenn ich Friedrichshain hinter mir lasse, vergesse ich das. Sonst könnte ich den Job nicht mehr machen.
Melden sich die Frauen bei Ihnen, wenn es ein Happy End gibt?
Manchmal bekomme ich einen Anruf: "Er hat eine neue Freundin, es ist vorbei." Dann sage ich "Gratuliere". Leider bedeutet das häufig, dass der Stalker ein neues Opfer gefunden hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Wohnungslosigkeit im Winter
Krankenhaus schiebt Obdachlosen in die Kälte