■ Angriff aufs Brandenburger Tor: Mehr Lässigkeit
Wenn sich mehr als zehn Bundestagsabgeordnete offiziell der neuen Hauptstadt nähern, drehen die Berliner Verantwortlichen für Sicherheit und Verkehr durch. Um sich ja lächerlich zu machen, werden Signalanlagen abgeschaltet und alle Wege bis zum Reichstagsgebäude weiträumig abgesperrt. Dort herrscht dann großer Bahnhof wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten. Daß dahinter die Stadt im Chaos versinkt, der Verkehr zusammenbricht und der Kommandoton regiert wie bei der Bundesversammlung im Sommer dieses Jahres, ist den gehorsamen preußischen Untertanen schietegal.
Damit bei der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages am Donnerstag im Reichstag erneut der „Worst Case“ die Stadt erschüttert, will – auf Befehl der Reichstagsverwaltung – die Polizei zum finalen Verkehrsbefreiungsschlag ausholen. Um am Reichstag parlamentarische Ruhe zu haben und in der Hoffnung auf freie Fahrt, soll die Ost-West-Blechlawine durchs Brandenburger Tor stinken. Die eigenen städtischen Interessen sind vergessen, kein Denkmal ist für das Rollover zu schade. Im Gegenteil. Mit dem Ausnahmefall zur Durchfahrt für private Pkw probt man den Dauerstau durchs große Tor – nicht mehr und nicht weniger.
Aber auch die Reichstagsverwaltung und die Parlamentarier selbst kennen kein Maß mehr, geht es gegen die Stadt. Meint man, mit postfeudalen Ansprüchen in Berlin einziehen zu können? Wohl in Sänften möchten die Volksvertreter in den Plenarsaal getragen werden? Statt auf öffentlichen Parkplätzen zu halten und 24 Stufen durchs Portal in den Reichstag hinaufzusteigen, beharrt man auf dem südlichen Seiteneingang und legt den Verkehr lahm. Die britischen Kollegen sind da liberaler, kommen die doch mit der U-Bahn oder mit dem Rad ins Unterhaus. Mehr Lässigkeit und weniger Sicherheits- und Absperrneurosen stünden den Hauptstadtschupos und ihren Herren besser zu Gesicht. Rolf Lautenschläger
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