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Angriff am Mortirolo

Auf der Königsetappe des Giro d'Italia über die Dolomiten bewies Vorjahressieger Miguel Induráin, daß mit ihm auch 1994 zu rechnen ist  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Francesco Moser (43), der ewige Verfolger des Stundenweltrekords, hatte eine ganz eigene Erklärung für den erstaunlichen Einbruch des Spaniers Miguel Induráin beim ersten großen Zeitfahren des Giro d'Italia 1994, als der anerkannte Spezialist in dieser Disziplin sagenhafte zweieinhalb Minuten auf den Sieger Jewgeni Berzin verlor. Induráin, das erkannte Moser schon bei Mailand - San Remo, habe deutlich abgenommen, vermutlich um seine Leistungsfähigkeit in den Bergen zu verbessern, wo der bisherige 80-Kilo-Mann in der Vergangenheit stets schwer an seinen Pfunden zu schleppen hatte, ohne allerdings dadurch nennenswerte Probleme zu bekommen.

In diesem Jahr jedoch haben sowohl die Organisatoren des Giro als auch die der Tour de France jede Menge Bergetappen und Bergzeitfahren eingebaut, um Induráins in den letzten drei Jahren so eklatante Überlegenheit zu mildern. Eine Abmagerungskur könnte nach Auffassung Mosers durchaus das probate Mittel sein, diesen Attacken der Veranstalter die Spitze zu nehmen, auch wenn der Spanier dadurch etwas an Kraft bei den Zeitfahren einbüße. Man durfte also gespannt sein, was Induráin, der trotz seiner vier Minuten Rückstand auf Berzin, den Träger des Rosa Trikots, stets betonte, daß er diesen Giro noch gewinnen will, wohl in den Bergen, besonders auf der Königsetappe, die am Sonntag über das Stilfser Joch und den mythischen Mortirolo führte, anstellen würde. Seine Vorstellung auf dieser 15. Etappe schien die These Mosers zu bestätigen, auch wenn Induráin am Schluß nicht in der Lage war, seinen mutigen Angriff in genügend Zeit umzumünzen.

Schon bei den Präliminarien zur Hatz durch die Dolomiten, auf der 13. Etappe, hatte Induráin, nach einer Verletzung im Frühjahr nicht ganz so fit wie sonst, die Konkurrenten verblüfft. „Uns hing die Zunge heraus“, sagte Bruno Cenghialta, „Miguel – ganz ruhig“. Die 14. Etappe über fünf Pässe der schwersten Kategorie nutzten die Verfolger Berzins, vor allem Gianni Bugno und Induráin, noch zum Abtasten und stellten fest, daß sowohl das Gewiss-Team des Spitzenreiters als auch der Franzose Armand de las Cuevas größte Mühe hatten, dem hohen Tempo und den beständigen Attacken des Italieners Claudio Chiappucci zu folgen. Zu einem Generalangriff bot sich dieser Abschnitt jedoch nicht an, da der letzte Paß 40 Kilometer vor dem Ziel lag und die Abfahrt nach Meran genügend Gelegenheit zum Aufholen bot. „Ich halte Bugno für gefährlicher als Induráin“, sagte Berzin in Meran, doch er sollte sich täuschen.

Für seinen langerwarteten Angriff auf der 195 Kilometer langen Etappe von Meran nach Aprica suchte sich Induráin, der beim Giro nur von einer „Mannschaft der dritten Liga“ (Chiappucci) unterstützt wird, exakt jenen steilen Mortirolo-Paß (1.852 Meter) aus, von dem der zähe Bergfuchs Marino Lejarreta beim Giro 1991 sagte, es sei der härteste Paß, den er je hinaufgeklettert sei: „Das Treten hat lediglich bewirkt, daß ich nicht rückwärts gefahren bin.“ Induráins fuhr vorwärts und seinem Antritt konnte weder Berzin noch Bugno noch de las Cuevas folgen. Am Ende stellte sich aber heraus, daß sich der Spanier mit dem frühen Ausreißversuch 60 Kilometer vor dem Ziel doch übernommen hatte. Vier Fahrer, darunter die Italiener Chiappucci und Marco Pantani, der bereits die 14. Etappe gewonne hatte, fuhren ihm am Ende davon, der Rückstand Berzins und Bugnos verringerte sich wieder. Etappensieger wurde der beim Aufstieg nach Aprica unaufhaltsame Pantani mit fast drei Minuten Vorsprung. Der 24jährige, der ohne die Zeitfahren längst Spitzenreiter dieses Giro wäre, setzte sich in der Gesamtwertung an die zweite Stelle hinter Berzin, der am Ende nur eine halbe Minute auf Induráin verlor und das Rosa Trikot verteidigen konnte.

Induráin überholte aber Gianni Bugno und Armand de las Cuevas und darf weiter an den Gesamtsieg denken. In der letzten Giro-Woche warten noch einige Berge auf die Fahrer, darunter am Samstag der berühmte Aufstieg nach Sestrière. Sollte Berzin widerstehen oder gar Marco Pantani, der Lehrling Chiappuccis aus dem Carrera-Team, die Sensation schaffen, wäre dies für Miguel Induráin aber auch nicht weiter tragisch. Sein großes Ziel bleibt die Tour de France. Außerdem, wie sagt der elegante Pedaleur aus dem Baskenland doch so tief und wahr: „Man kann nicht immer gewinnen.“

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