■ Angeklagter im Solingen-Prozeß widerruft Geständnis: Gezinkte Karten
Hehre Worte des Bedauerns, des Mitleids und das Versprechen, den Hinterbliebenen der fünf in Solingen ermordeten Frauen und Mädchen soweit wie eben möglich neue Schmerzen und zusätzliches Leid zu ersparen, gab es während des Solinger Prozesses von seiten der Angeklagten zuhauf. Gerade Markus Gartmann, der bis gestern einzige Geständige der vier Angeklagten, sprach im Angesicht der Überlebenden wiederholt von Reue und berichtete von seiner Scham. In einem Brief an die Familie Genc hatte er kurz vor Prozeßbeginn die Beteiligung so gestanden: „Ich bin einer der Täter“, und auch die anderen drei Angeklagten säßen „zu Recht in Haft“. Und weiter: „Ich schäme mich unendlich dafür.“ Gestern nun, nach zigfacher Wiederholung dieser Aussage während der 80 Verhandlungstage, kam das Dementi: „Mein Geständnis ist nicht wahr.“ Das schlug nicht nur beim Gerichtsvorsitzenden Wolfgang Steffen ein wie „eine Bombe“.
Platzt jetzt der Prozeß? Ein Blick auf Mölln – auch dort wurden während des Prozesses von den Angeklagten alle früheren Geständnisse widerrufen – zeigt: Ein Widerruf allein schützt vor Strafe nicht. Aber da im Solinger Prozeß zweifelsfreie Indizien oder gar Beweise für die Tatbeteiligung der Angeklagten fehlen, hängt alles davon ab, wie glaubwürdig und schlüssig die Richter die bisher gemachten Aussagen bewerten. Ob Freispruch oder Höchststrafe, auf den Ausgang dieses Abwägungsprozesses kommt es an. Was auch immer an dem „Geständnis“ wahr war, eins hat Markus Gartmann gestern überdeutlich klargemacht: Er kennt nur seine eigenen Interessen. Mit den Gefühlen anderer treibt er ein widerliches, grausiges Spiel: Gestern noch beschuldigte er drei junge Männer einer grausamen Tat und vermittelte den Hinterbliebenen den Eindruck, der fünffache Mord werde gesühnt. Heute behauptet er, es war alles nur ein Spiel, um das Gericht milde zu stimmen. Was auch immer wahr ist, niederträchtiger kann sich ein Mensch kaum verhalten.
Mit dieser ruchlosen Art steht der 25jährige Gartmann auf seiten der Angeklagten indes nicht allein. Sein Mitangeklagter, der 18jährige Christian R., treibt mit Unterstützung seiner Anwälte ein vergleichbar übles Spiel. 16mal hat er die Tat im Vorfeld des Prozesses gestanden. In immer neuen Versionen beschuldigte er zeitweise auch die anderen drei der Mittäterschaft. Seit Prozeßbeginn ist alles anders. Jetzt schweigt der fanatische Ausländerhasser sich weitgehend aus. Die anderen drei waren es nicht, sagt er nun. Über seine eigene Rolle verrät er nichts. Jeder Angeklagte hat das Recht, sich so zu verhalten. Auch Verteidiger dürfen so verteidigen, aber sie sollten uns wenigstens mit dem Geschwätz verschonen, es gehe ihnen nur um Aufklärung und um sonst nichts. Walter Jakobs
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