: Anerkennung durch die Hintertür
■ Was bezweckt Gorbatschow in Litauen?
Medien haben ein kurzes Gedächtnis. Noch vor zehn Tagen herrschte in der Litauen-Krise düstere Zukunftsangst: Gorbatschow würde eine direkte Präsidialverwaltung installieren, die Tage von Landsbergis seien gezählt. Was dann letztlich nach einer Woche verkündet wurde, war jedoch ganz anders. Nicht die Souveränität Litauens wurde in Frage gestellt, sondern das Verbleiben in der Union. Gorbatschow drohte nicht mit der Übernahme der Regierungsgewalt, sondern mit der Entlassung Litauens in die wirtschaftliche Selbständigkeit. Vilnius wird zur Unabhängigkeit gezwungen.
Die von Moskau angedrohten Handelsbeziehungen unterscheiden sich kaum von denen, die die Sowjetunion innerhalb des RGW, beispielsweise gegenüber Kuba, durchsetzen will. Daß mit Litauen jetzt erste Schritte zu einem ähnlichen Verhältnis zustande kommen, ist als Eingeständnis einer gewachsenen litauischen Souveränität zu werten, auch wenn sich dies vordergründig anders anhört. Ein Etappensieg der litauischen Unabhängigkeitsbewegung also.
Wie ist dies zu verstehen? Ein Vergleich mit dem Spaltungsprozeß in der KPdSU ist hier instruktiv. Jahrelang wandte sich Gorbatschow strikt gegen eine Spaltung der Partei, da sonst die Perestroika scheitern werde. Jetzt, da die Teilung unvermeidlich ist, stellt sich die 'Prawda‘ an die Spitze derer, die die KP aufsplittern wollen. Es ist Gorbatschows bewährte Taktik, unaufhaltbare Entwicklungen frühzeitig zur eigenen Politik zu machen, um seinen Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Unionskonflikt ist dies genauso.
Der Realist Gorbatschow weiß, daß die litauische Unabhängigkeit im Kommen ist. Daher will er, daß Vilnius nur zu von ihm abgesegneten Bedingungen souverän agiert. Vorausgesetzt, daß die politischen Spielregeln von den Litauern eingehalten werden, könnte ihre Entlassung in den Weltmarkt schon in einigen Wochen als Argument für eine auch formelle Anerkennung der neuen Souveränität dienen.
Dominic Johnson
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