Andreas Hergeth Der Wochenendkrimi: Wie ein Adrenalinkick, bei dem man erst nichts und dann alles versteht
Es ist zum aus der Haut fahren: In einer Seilbahngondel stehen viel zu viele Leute zusammen, es ist eng, heiß und stickig. Der Stresslevel steigt. Sven und Nina Kucher schwitzen, sie ist hochschwanger und ringt um Luft. Macht doch mal das Fenster auf! Doch vor dem schmalen Kippfenster steht ein Mann, der das Fenster immer wieder zuklappt, sobald es jemand geöffnet hat …
Schnell kippt die Stimmung und die Lage wird unübersichtlich. Nina rastet aus, greift wie in Panik zum roten Nothammer und drischt auf eine Scheibe ein. Alles geht schnell, man kann kaum folgen. Auf einmal steht der Mann, der das Fenster immer wieder zuschlug, vor der wütenden Schwangeren, doch dann liegt er Sekunden später am Boden … Und schon ist man im Tal angekommen, nur raus, raus aus der Gondel, Nina und Sven eilen davon – puh, das sind hektische erste Krimiminuten.
Wenig später sitzen die stöhnende, schreiende Nina und der nervöse wie besorgte Sven im Auto. Beide benehmen sich verhaltensauffällig und aggressiv. Was mit dem Mann passiert ist, interessiert sie nicht wirklich. Der hat wohl eine Platzwunde davongetragen. Wir Zuschauer wissen dagegen, dass der Mann ist tot. Nina will die Polizei informieren. Sven sagt, dass das Ganze ein Unfall war. Doch Nina muss erst mal ins Krankenhaus, dort kennt man sich und ist per du. Unvermittelt beißt die gestresste Schwangere einer helfenden Schwester in den Arm. Was ist mit Nina (krass gut: Pina Bergemann) und Sven (genauso super: Benjamin Lille) bloß los? Ist die Hochschwangere psychisch krank, oder gar beide?
Schnitt: Die beiden Ermittler kommen ins Spiel, sie fahren mit dem Auto zur Gondel. Ach nee, auch zwischen Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) herrscht ebenfalls dicke Luft. So ein aggressiv daher kommender „Tatort“ aber auch, das kann schnell anstrengen.
„Du kriegst die Dezernatsleitung und ich kann mir jemand Neues suchen“, mault Berg. „Bewirb dich doch auch“, gibt Tobler zurück. Damit ist der Ton gesetzt. Die beiden werden sich den Film über nichts schenken und sich gegenseitig verletzen – denn das geht mit Worten oft treffsicherer als mit Waffen (die kommen gegen Ende aber auch zum Einsatz).
Ein tatverdächtiges, scheinbar unberechenbares Paar, auf der Flucht durch den Schwarzwald. Ein Fall ohne ein erkennbares Motiv, aber mit großem äußerem Druck durch Presse, Funk und Social Media. Das ist ein origineller Plot, der einem allerhand abverlangt. Erst versteht man die erste Filmhälfte über nicht, warum die beiden Tatverdächtigen so selbstzerstörerisch agieren. Doch dann, nach der Erklärung zur Mitte des Krimis, versteht man alles – und nein, hier wird im Gegensatz zu anderen Rezensionen nichts verraten, denn dann wäre der Thrill futsch. Und erstaunlich: Die Spannung fällt nicht ab. Sie steigt mit jeder Sendeminute. Ein Film, wie ein Adrenalinkick.
Christina Ebelt schrieb und inszenierte den „Tatort“ und jagt die hochschwangere Nina und ihren Mann, am Rande des Nervenzusammenbruchs, die Hügel hinauf und wieder runter. Das zerrt an den Nerven aller. Und weil es auf einmal auch um einen kleinen Jungen geht, der womöglich in die Hände des Paares gefallen sein könnte, haben die beiden Kommissare auch die aufgebrachte Bevölkerung am Hals. Die Lage eskaliert. Ein wütender Mob ergreift die Initiative. Das könnte in einer Hetzjagd enden. Ein hochdramatisches Finale.
Schwarzwald-„Tatort“: „Die große Angst“, So., ARD, 20.15 Uhr
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