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Andere Wege in der PflegeDie Sprache der Alten

Ein würdevoller Umgang mit dementen Menschen ist für die Bremer Validations-Expertin Heidrun Tegeler erlernbar. Ein Besuch in der Senioren-WG Arbergen.

Ingard Sowitzkat (r.) in „ihrer“ Alten-WG in Arbergen. Foto: sagmalspaghetti fotodesign

BREMEN taz | Frau Möller* spricht in ihrer eigenen Sprache: „Bababababa“, sagt sie und drückt die Hand von Heidrun Tegeler so fest, dass die sich kaum befreien kann. Vorerst versucht sie das auch gar nicht: Tegeler nähert sich statt dessen auf kurze Distanz dem Gesichtsfeld der 90-Jährigen, fokussiert es, stimmt ein in ihr Bababababa und berührt mit der freien Hand ihre Wange. „Ankern“ nennt sie diese gezielte Berührung, die nur ein paar Sekunden dauert, aber etwas bewirkt: Frau Möller schließt die Augen und legt ihren Kopf entspannt auf die Seite. Lediglich Tegelers Hand bleibt fest im Schraubstock der zierlichen alten Frau.

Nicht krank, nur alt

Was Heidrun Tegeler nicht nur mit Frau Möller, sondern mit allen neun BewohnerInnen der Senioren-WG in Arbergen tut, nennt sich Validation. Validieren bedeutet allgemein „die Wichtigkeit, die Gültigkeit, den Wert von etwas feststellen, bestimmen“. Hier heißt es, das Verhalten von Menschen mit Demenz als für sie gültig zu akzeptieren, und ist eine Methode, um mit alten, desorientierten Menschen in Kontakt zu treten, ihnen Wertschätzung und Verständnis entgegenzubringen, „damit sie“, sagt Tegeler, „in Würde sterben können“.

Denn Demenz, so Tegeler, bedeute nicht, dass ein Mensch krank sei: „Er ist lediglich alt.“ Und das ist nicht immer schön: Der Körper verfällt, die Sprache versagt, der Partner verstirbt: „Ein alter Mensch entzieht sich der unerträglichen Gegenwart und kehrt in die Vergangenheit zurück, um Unvollendetes aufzuarbeiten. Das ist eine Art Selbstheilung, um in Frieden mit dem Leben abschließen zu können“, sagt Tegeler.

Tuch als „Arbeitsmaterial“

Es ist also nicht sinnlos, wenn Herr Müller* Heidrun Tegeler zeigt, wie man ein Handtuch falten und wo genau und wie oft man es auf dem Esstisch drapieren muss: „Regelmäßig muss das verändert werden“, sagt er. „Da muss man auch ein bisschen ein Auge drauf haben.“ Herr Müller war früher Chef eines Unternehmens. Das Tuch ist jetzt sein „Arbeitsmaterial“, es symbolisiert Sinn und Sicherheit seines vergangenen Lebens.

Die Methode der Validation wurde von der US-amerikanischen Gerontologin Naomi Feil entwickelt, basierend auf der klientenzentrierten Gesprächsführung des Psychologen Carl Rogers. Dabei wird die Lebenswirklichkeit des desorientierten Menschen akzeptiert. Um „dort“ auch mit ihm kommunizieren zu können, ist es sinnvoll, möglichst viele biografische Informationen über ihn zusammenzutragen.

So auch bei Frau Grambke*: Sie erzählt immer und immer wieder, wie schön „es“ früher war. Um sie herauszuholen aus dieser Schleife, die für die Außenwelt mit wenig Inhalt gefüllt ist, fragt Tegeler: „Sie sind doch in Bremen aufgewachsen – wo denn genau?“ Frau Grambkes Blick, der zuvor ins Leere gerichtet war, fokussiert sich jetzt auf Heidrun Tegeler und sie erzählt, immer wieder unterbrochen von gezielten Fragen, von ihrer Kindheit in Hemelingen, von ihrer Lehrzeit und vom BDM: „Da haben wir immer so schön gesungen und sind marschiert.“

Tegeler interveniert nicht: „Bei der Validation ist es wichtig, sich selbst und die eigenen Gefühle beiseite zu stellen. Hier geht es nur um Empathie.“ Konfrontationen sind ebenso tabu wie die Frage nach dem Warum. „Wenn ein alter, desorientierter Mensch Dinge tut oder sagt, die wir nicht verstehen können, dann hinterfragen wir das nicht, sondern nehmen Anteil – alles andere überfordert ihn.“

„Therapeutisches Lügen“

Tabu ist auch das, was Tegeler „therapeutisches Lügen“ nennt: „Da wird einem alten Menschen gesagt: Ja, deine Frau kommt ja gleich – obwohl die Frau schon lange tot ist. Das gibt es im Umgang mit desorientierten Menschen leider noch oft“, sagt sie. Auch von Einrichtungen wie dem bundesweit bekannt gewordenen „Demenzdorf“ in Hameln hält sie nicht viel: „Dort gibt es einen Supermarkt, der gar keiner ist, um den Menschen vorzugaukeln, sie gingen wie früher zu Hause einkaufen. Dabei wird dort nur Einkaufen gespielt – wie mit kleinen Kindern!“

Das sei weder ein würdevoller noch ein sinnvoller Umgang mit alten Menschen. „Auch Orientierungslose wissen durchaus, dass ihr Partner tot oder ihre Kinder groß sind und dass sie nicht in einem echten Laden einkaufen. Sie lassen sich nicht belügen.“ Sie fühlten lediglich etwas anderes – und folgten statt der rationalen Bewusstseinsebene ihren Emotionen.

Auch Ingard Sowitzkat, Leiterin der Senioren-WG in Arbergen, kann der als vorbildlich geltenden Einrichtung in Hameln wenig abgewinnen: „Das Gelände dort ist komplett eingezäunt, damit niemand weglaufen kann, aber wichtiger sollte es doch sein, den Grund für das Weglaufen zu hinterfragen.“

Sie wendet in ihrer Arbeit ebenfalls Validation an – und nicht nur sie, sondern alle MitarbeiterInnen der WG, von der Hilfskraft über die Hauswirtschafterin bis hin zu den PflegerInnen, absolvieren entsprechende Fortbildungen. „Es wäre wünschenswert, wenn jeder, der intensiven Kontakt zu den alten Menschen hat, die Grundtechniken der Validation beherrscht“, sagt Tegeler.

Nicht für jeden gut

Und meint damit auch die Angehörigen: „Der Umgang mit den desorientierten Eltern oder Großeltern wird dadurch deutlich leichter – ich habe sogar Menschen kennengelernt, die ihre Angehörigen aus einer Einrichtung wieder nach Hause geholt haben, weil das Zusammenleben plötzlich wieder geklappt hat.“ Allerdings sei es nicht unbedingt für jeden Angehörigen gut, die Mutter oder den Vater selbst zu validieren: „Da geht es ja durchaus auch um die gemeinsame Biografie, die man vielleicht unterschiedlich wahrnimmt.“ Oft sei es da nicht möglich, die eigenen Gefühle beiseite zu stellen.

Die Methode der Validation ist in der Altenpflege mittlerweile vielerorts anerkannt; vor allem in Österreich gehört sie längst zum Pflegealltag. Auch in Bremen engagieren viele Einrichtungen Heidrun Tegeler für regelmäßige Gruppenvalidationen oder für Fort- und Weiterbildungen der Mitarbeitenden und Angehörigen. Tegeler lehrt an der Krankenpflegeschule in Bremen-Ost Validation und wird ab Januar am Bremer Institut für Berufs- und Sozialpädagogik Validations-Workshops veranstalten.

Während Angehörige demenzkranker Menschen die Kosten für die „Anwender-Ausbildung“ von den Pflegekassen erstattet bekommen, müssen MitarbeiterInnen von Altenpflege-Einrichtungen die Fortbildungen allerdings aus eigener Tasche zahlen: „Das ist schon ziemlich merkwürdig geregelt“, sagt Sowitzkat. Sie hat Glück: Der Einrichtungsträger „Pflegeimpulse“, der überdies eine Senioren-WG in der Vahr betreibt und ambulante Altenpflege anbietet, übernimmt die Weiterbildung seiner Angestellten.

„Weniger Medikamente“

„Wir sind überzeugt davon, dass Validation eine sinnvolle Methode ist“, sagt Jan Dierk Busch, Geschäftsführer des Pflegedienstes, der seit Mitte des Jahres „Autorisierte Validations-Organisation“ für Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt ist. Als solche bietet das Unternehmen Aus- und Fortbildungen und Tagungen zum Thema an – organisiert von Heidrun Tegeler. „Wir arbeiten schon seit Jahren mit ihr und haben die Erfahrung gemacht, dass der Zugang zu verwirrten Menschen durch die Validation deutlich leichter wird“, sagt Busch.

Ein Resultat: „Wir setzen bei unseren Bewohnern weniger Medikamente ein als früher“, sagt Ingard Sowitzkat. Ein anderes: „Nicht nur die alten Menschen, sondern auch die Mitarbeiter sind deutlich zufriedener – ich bin überzeugt davon, dass Unzufriedenheit mit dem Job und Erkrankungen wie Burnout vermieden werden können, wenn es nicht nur darum geht, alte Menschen zu pflegen, sondern auch darum, sie zu verstehen.“

* Namen geändert

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1 Kommentar

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  • "...und ist eine Methode, um mit alten, desorientierten Menschen in Kontakt zu treten, ihnen Wertschätzung und Verständnis entgegenzubringen, „damit sie“, sagt Tegeler,

    „in Würde sterben können“.

     

    Bitte, lieber so:

     

    "...und ist eine Methode, um mit alten, desorientierten Menschen in Kontakt zu treten, ihnen Wertschätzung und Verständnis entgegenzubringen, „damit sie“, sagt Tegeler,

    „so lange wie möglich und in Würde weiter leben können“.