Analyse: Druckmittel Abchasien
■ In der Schwarzmeerregion sind erneute Kämpfe nur eine Frage der Zeit
In der Sprache der internationalen Vermittler ist der Bürgerkrieg in Georgien ein „frozen conflict“. Seit Jahren hat sich in den Verhandlungen kaum etwas bewegt. 1992 war es in dem gerade unabhängig gewordenen Georgien zu einem Bürgerkrieg mit mehr als 7.000 Toten gekommen. Die ethnische Minderheit der Abchasen, die zu Sowjetzeiten eine autonome Region innerhalb der Sowjetrepublik Georgien besaß, sah nach der Unabhängigkeit Georgiens ihre Position gefährdet und drängte auf eine Abspaltung. Das Problem ist, in Abchasien lebten vor Ausbruch des Bürgerkriegs nur rund 70.000 Abchasen, aber mehr als 200.000 Georgier. Dazu kamen 100.000 Russen, fast 100.000 Armenier, Griechen, Türken, Tschetschenen und andere Nordkaukasier.
Die überwältigende Mehrheit der Georgier, die in der Regel auch seit Generationen in Abchasien leben, war gegen eine Abspaltung und hoffte, die Privilegien der Abchasen, die diese aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu Sowjetzeiten besessen hatten, abschaffen zu können. Als der Bürgerkrieg begann, fragte sich jeder, wie die Minderheit der 70.000 Abchasen sich gegen die weit überlegene georgische Miliz durchsetzen wollte. Ein Jahr später mußte Eduard Schewardnadse, erst kurz zuvor aus Moskau wieder an die Spitze Georgiens zurückgekehrt, als Verlierer fluchtartig Suchumi verlassen. Mit ihm wurden fast alle 200.000 Georgier aus Abchasien vertrieben. Für den Sieg der Abchasen zeichnete Rußland verantwortlich. Moskau lieferte die Waffen. Als das nicht reichte, griffen russische Truppen direkt ein. Abchasien ist ein Druckmittel Rußlands gegen Georgien im Poker um Kontrolle im südlichen Kaukasus. Weil das immer noch so ist, gibt es seit dem Waffenstillstand 1994 keine politische Lösung. Für Moskau ist Abchasien die perfekte Daumenschraube an der Hand Schewardnadses. Deshalb gelingt es der UNO auch nicht, eine politische Lösung durchzusetzen.
Die jetzigen Kämpfe wurden ausgelöst durch irreguläre Milizen der Flüchtlinge, die seit vier Jahren auf ihre Rückkehr warten. Vor allem in der Region Gali waren bereits rund 60.000 georgische Flüchtlinge wieder eingesickert. Der Konflikt der letzten Tage geht auf Zusammenstöße zwischen diesen Rückkehrern und abchasischer Polizei zurück. Da eine politische Lösung nicht in Sicht ist – es sei denn, Moskau ändert seine Position –, sind erneute Kämpfe nur eine Frage der Zeit. Schewardnadses Vorschlag einer bundesstaatlichen Regelung hat Abchasien schon vor einem Jahr abgelehnt, weitergehende Zugeständnisse in der Statusfrage kann und will Schewardnadse nicht machen. Derweil wächst unter den Flüchtlingen die Gewißheit, daß sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen – mit der Maschinenpistole. Jürgen Gottschlich
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