Analyse: Disinflation
■ Zwar sinken die Preise, aber die Bundesbank sieht keine Deflation
Um 0,7 Prozent sind im November die Preise im Vergleich zum November 97 gestiegen, genauso wenig wie im Oktober. In Westdeutschland lag die Inflationsrate sogar bei nur 0,6 Prozent. Doch hatte die Bundesbank erst im Frühjahr festgestellt, daß bei Berechnung der Lebenshaltungskosten die Preissteigerung systematisch überschätzt würde: um bis zu 0,75 Prozent. Verkehrt sich die Inflation also real gesehen in eine – wenn auch mit 0,05 Prozent nur minimale – Deflation?
Die herkömmliche Berechnung der Lebenshaltungskosten, so die Bundesbank, berücksichtigt nicht, daß man für leicht teurere Produkte mitunter ja auch wesentlich mehr Leistung bekommt – bestes Beispiel: Computer. Zudem können die Konsumenten Preissteigerungen entgehen, indem sie auf andere Produkte ausweichen. Sie kaufen eben Äpfel aus Brandenburg, wenn sich die Grapefruits aus Israel stark verteuern. Da die Einrechnung solcher Faktoren aber sehr aufwendig und daher zeitraubend ist, bleibt man bei der alten Methode – wohl wissend, daß in Wirklichkeit der Preisauftrieb etwas schwächer ist. Derzeit sogar mit negativen Vorzeichen. Ist das schon Deflation?
Nein, besänftigt die Bundesbank. In Wirklichkeit nämlich steigen die Preise für die allermeisten Waren in Deutschland nach wie vor, nur die Ölpreise brechen dramatisch ein. Zur Deflation fehle außerdem noch ein Rückgang der Wirtschaftsaktivität. Weil solch eine Kontraktion in Deutschland nicht zu spüren sei, könne man nicht von Deflation reden. Wenn trotzdem real die Preise sinken, dann muß ein anderer Begriff her: „Disinflation“.
Der Begriff Deflation löst schließlich Ängste aus. Man erinnert sich dabei an die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre. Zwischen dem Schwarzen Freitag im Jahr 1929 und 1933 sanken in Deutschland die Preise um 23 Prozent. Die Unternehmensgewinne brachen dadurch ein, und so entließen sie massenweise Leute. Dadurch sank die Nachfrage, zumal selbst die geldbesitzenden Verbraucher ihre Käufe verschoben, weil sie darauf warteten, daß die Preise weiter fallen. Ein Teufelskreis.
Die Europäische Zentralbank nimmt die Ängste durchaus ernst. Ihr Chef-Volkswirt Otmar Issing warnte am Dienstag abend: „Deflation ist genauso gefährlich wie Inflation.“ Allerdings sehe er derzeit nirgendwo in Europa das Aufkommen einer Deflation. Das sah der neue Finanzstaatssekretär Heiner Flassbeck in seiner Zeit als Konjunkturexperte des DIW noch anders. Von Deutschland gehe ein „deflationärer Impuls“ aus, schrieb er im Spätsommer und forderte umgehende Zinssenkungen, um die Wirtschaft mit ausreichend Geld zum Expandieren zu versorgen. Dem Wunsch ist die Bundesbank inzwischen nachgekommen. Nicola Liebert
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