Analyse: Chipzwang
■ Kodierte Versichertenkarten sollen die Patienten an den Hausarzt binden
Wie wird der Hausarzt zum Lotsen? Indem man die Patienten-Chipkarte umprogrammiert. So lautet jedenfalls der neueste Plan von SPD-Fraktionsvize Rudolf Dreßler. Die Bundesregierung will seit langem die Rolle der Hausärzte stärken. Kranke sollen sich zuerst vom Hausarzt untersuchen lassen, bevor sie einen Facharzt aufsuchen. Spezialuntersuchungen sollen nur einmal und nicht wiederholt vorgenommen werden, Ärzte sich besser untereinander abstimmen. Das Ziel: Kosten senken.
Bisher kann niemand die Patienten dazu zwingen, sich vom Hausarzt überweisen zu lassen. Jetzt soll aber die Chipkarte, die jeder Versichterte von seiner Krankenkasse erhält, kodiert werden. Nur noch zwei Besuche beim Haus- und einen bei einem Facharzt sollen die neuen Karten pro Quartal zulassen. „Ausnahmen gibt es nur für einige Fachgruppen wie Frauen- oder Augenärzte“, so Dreßler in einem Focus-Interview. In Zukunft soll sich Sparsamkeit auf achteinhalb mal fünfeinhalb Zentimeter Plastik pressen lassen. Dabei lösen kodierte Chipkarten ein Problem, das Chipkarten überhaupt erst geschaffen haben.
In den ersten zwei Jahren nach Einführung der Karten 1994 haben die deutschen Ärzte jedes Jahr knapp drei Prozent mehr Fälle behandelt als davor, schätzt die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Die Chipkarten sollten damals Formularberge reduzieren und so Geld sparen. Allein die Einführung der Karten kostete die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) 500 Millionen Mark. Kosten, die noch einmal auf die Krankenkassen zukämen, wenn alle 72 Millionen Chipkarten und 150.000 Lesegräte in Praxen und Krankenhäusern ausgetauscht werden müßten. Auch datenschutzrechtliche Bedenken sprechen dagegen. Die AOK- Bundesvereinigung lehnt die Programmierung aus einem weiteren Grund ab. In Deutschland gilt die freie Arztwahl. Daß diese eingeschränkt wird, „werden unsere Kunden nicht akzeptieren“, sagte AOK-Sprecher Rainer Eikel zur taz. Die AOK setzt eher auf ein ältere Idee: Patienten zahlen weniger Beiträge, wenn sie sich stets vom Hausarzt überweisen lassen. Der finanzielle Bonus soll überzeugen. Das Gesundheitssystem solle durch die kodierten Chipkarten nicht „noch weiter bürokratisiert werden“. Viel wichtiger sei es, die Qualität der hausärztlichen Versorgung zu steigern, so Eikel.
Die SPD glaubt aber anscheinend nicht, daß finanzieller Anreiz und bessere Beratung allein ausreichen, um die Patienten an die Hausärzte zu binden. Auch die Kassenärzte haben sich bereits mit dem Modell der kodierten Chipkarten angefreundet. Ihr Geschäftsführer Lothar Krimmel spricht von einem „akzeptablen Kompromiß“ für die Patienten. Till Ottlitz
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