Analphabetismus in Deutschland: 7,5 Millionen können nicht lesen
Es gibt in Deutschland fast doppelt so viele Analphabeten wie bisher angenommen, so eine Studie der Uni Hamburg. Sie stehen im Alltag unter großem Druck.
BERLIN taz | Im Fundament der Bildungsrepublik bröckelt es, und das gewaltig. In Deutschland gibt es laut einer Studie der Universität Hamburg 7,5 Millionen Analphabeten - bisher wurde ihre Zahl auf 4 Millionen geschätzt. "Das ist eine Größenordnung, die keine Nische darstellt", sagte Bundesbildungsministerin Annette Schavan am Montag bei der Vorstellung der "leo. - Level-One Studie", die Lese- und Schreibfähigkeiten von Erwachsenen untersucht hat.
Auch der Präsident der Kultusministerkonferenz, Bernd Althusmann, sprach von einem "ernsten Befund". Die von der Uni Hamburg durchgeführte Untersuchung hat 8.000 Personen befragt und getestet, sie liefert erstmals differenzierte Informationen über den niedrigsten Kompetenzbereich, den sogenannten Level One. 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren fallen in die Kategorie "funktionaler Analphabetismus". Eine kleine Gruppe von ihnen kann nur Buchstaben lesen, andere scheitern an Sätzen oder Texten.
Männer (60,3 Prozent) sind häufiger von Analphabetismus betroffen als Frauen (39,7 Prozent), ältere stärker als jüngere Menschen. Weiteren 13,3 Millionen Erwerbstätigen, also jedem Vierten, bescheinigt die Studie außerdem fehlerhaftes Lesen und Schreiben.
"Das Tabuthema Analphabetismus stellt Betroffene im Alltag vor große Probleme", sagte Andreas Brinkmann vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung. "Das ist so ähnlich, wie wenn ich sage, dass ich eine ansteckende Krankheit habe." Meist hätten die Betroffenen eine eingeweihte Vertrauensperson, die ihnen bei Briefen oder dem Ausfüllen von Formularen helfe, sagte Brinkmann. "Eine Zeitung zu lesen oder einen Fahrkartenautomaten zu bedienen, ist ihnen ohne Hilfe oft nicht möglich."
Im Alltag behelfen sich die Analphabeten mit Ausreden oder versuchen, sich fotografisch Straßenschilder oder die Farbe ihrer Buslinie zu merken, um sich zu orientieren, sagte der Analphabetismusexperte. Entscheide sich ein Betroffener für einen Schreib- und Lesekurs, geschehe dies oft auf Druck aus dem privaten Umfeld, etwa um den Kindern vorlesen zu können.
Am Arbeitsplatz müsse die Politik ansetzen, um betroffene Menschen zu erreichen und Unternehmen für das Thema zu sensibilisieren, sagte Schavan. Zu diesem Zweck will sie sich in Anlehnung an den Ausbildungspakt um einen "Grundbildungspakt" bemühen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball