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Analogien machen müssen

Kipphardts „Bruder Eichmann“ in Augsburg: Aktualisierung erzwungen  ■ Von Sven Hanuschek

Termingerecht zum 60. Ernennungstag des Kanzlers Hitler spielt ein kleines städtisches Theater in der geschmähten Provinz Heinar Kipphardts „Bruder Eichmann“, flankiert von Vorträgen und einer Lesung aus Günther Anders „Wir Eichmannsöhne“. Die großen Bühnen drücken sich; es wurde – und wird – zwar belobigt, daß sich Kipphardt eines solchen Themas angenommen hat, aber doch bitte nicht so.

Denn Eichmanns Rechtfertigungen im Gespräch mit dem Polizeioffizier Less (Chass im Stück) und der Psychiaterin Schilch, seine Abwehr der hysterischen Bekehrungsversuche des Priesterehepaars Hull sind nur das halbe Stück; es gibt da noch Szenenkomplexe, „in denen auf Ähnlichkeiten verwiesen wird“ (Kipphardt): der ehemalige israelische Verteidigungsminister Sharon rechtfertigt Israels nationalistische Palästinenserpolitik; ein Conférencier erzählt rassistische Witze; Captain Weiß hat mit seinen Einsätzen als Bomberpilot in Vietnam keine moralischen Probleme, „wir sind, ich glaube, eine ziemlich gute Crew“; Paola Maturi beschreibt, wie sie von italienischen Polizisten gefoltert wurde; ein Opfer des Atombombenabwurfs über Nagasaki fragt nach den „Empfindungen“ der Täter et cetera.

Eichmann wird ganz nah gerückt; ein dichtes Netz von Beziehungen zwischen Eichmann- und Analogieszenen erklärt und konstituiert Kipphardts Paradigma der „Eichmann-Haltung“, der „bürgerlichen Haltung schlechthin“: „Das Monster, es scheint, ist der gewöhnliche funktionale Mensch, der jede Maschine ölt und stark im Zunehmen begriffen ist.“ Dieser zentrale Satz fällt in einem Monolog des verhörenden Polizeioffiziers; er fällt nicht in Augsburg.

Die Inszenierung versucht in ihrer Strichfassung eine stärkere Historisierung, mit den besten Absichten; das Stück soll wirken wie ein traditionelles historisches Drama: über die gute alte Identifikation. Eichmann als netter Familienvater, der grausliche Dinge erzählt, die er nicht mit sich selbst in Verbindung bringen kann; er hat ja nie getötet, nie den Befehl dazu gegeben und so fort. Man soll's ihm glauben und erschrecken beim Gedanken an seine Taten. Produktive Distanzierung, Verallgemeinerung ist nur über szenische Einfälle des Regisseurs Jürgen Scheller möglich, ein Bühnenbild aus Grautönen, verstärkt durch dito Kostüme und einen homogenisierenden Schleier vor der Bühne. Das kann wirken, muß aber nicht; es verhilft den Analogieszenen verstärkt zu neu-alten Mißverständnissen, sie würden Eichmann entschuldigen, seine Verbrechen verkleinern. Das ist natürlich Unfug. Die Inszenierung hat es durch zwei ungeschickte Striche versäumt, Eichmanns unbezweifelbare Schuld eindringlich zu artikulieren: Chass' Monolog fehlt; und ebenso der vorgeschriebene achtminütige Dokumentarfilm über KZ-Greuel, den Eichmann unterbricht, nicht weil er die Bilder nicht erträgt, sondern weil er beim Besuch der Journalisten nur Filzpantoffeln und Sackhose anhat. „Sie haben damit zu tun! Sie haben die umgebracht! Kain! Kain! ... Ungeheuer! Unhold! Judenmörder!“ – so Chass' Ausbruch, mit dem die ZuschauerInnen in die Pause entlassen werden sollen. Statt dessen stellt Chass in Augsburg, das Tonband ab und sagt gemütlich: „Sie sind schuldig, Herr Eichmann.“

Es scheint mir das Hauptmißverständnis zu sein, daß die Inszenierung den „Bruder“ primär als Faschismus-Erklärung begreift; als Erklärung dafür, wie „es“ geschehen konnte, wie die Täter als „normale“ Menschen weiterleben konnten. Die Eichmann-Haltung ist aber viel mehr als das, sie ist eine radikale Aussage über die heutige Gesellschaft, über einen Charakter, der erst mit der Industrialisierung entstanden ist. Kipphardt in einem Brief: „Da nahezu überall Lohnarbeit ist, ist nahezu überall Eichmann.“ Damit mochte man in Augsburg nichts anfangen, man mochte lieber ethische Implikationen eines historischen Falls feinsinnig diskutieren und deshalb bleiben die Analogieszenen unverstanden, wie sich an der Interpolation von zwei Stücken der bekannten Rede Himmlers vor SS-Leuten in Posen ablesen läßt. Die haben hier nichts verloren. Sie zeigen das „infernalisch Böse“, wie Scheller in einer anschließenden Podiumsdiskussion meint, und genau das interessiert nicht an Kipphardts Stück. Tatsächlich aktuelle Analogieszenen lassen sich zuhauf in den täglichen Nachrichten finden, immerhin ist „Bruder Eichmann“ zehn Jahre alt; es gibt Rassengesetze, Lager, Völkermord im ehemaligen Jugoslawien, es gibt Paola Maturis in der Türkei, es gibt brennende Exilantenheime hierzulande. Auch zum Beispiel das „Brüderliche“ an Chass, am Gefängnisdirektor Ofer in den Eichmann-Szenen hätte eine bequeme Distanzierung verhindert; auch hier wurde jeder Bezug systematisch gestrichen, Eichmann allein soll wirken, nichts soll von ihm ablenken oder zu Transferleistungen nötigen.

Es ist schon sehr decouvrierend, wenn der Chefdramaturg Prütting während der Diskussion erzählt, „eigentlich“ habe man ja überhaupt keine Analogieszenen machen wollen, man habe sie (dank der Verlegerin Nyssen und Frau Kipphardt) machen müssen, und Dramaturg und Regisseur wären glücklicher gewesen, hätten sie gleich eine Dokumentation aus den Originalprotokollen herstellen können (also eine Faschismustheorie plus Individualtragödie, Schiller läßt grüßen).

Es ist insofern nicht ohne Ironie, daß gerade die erzwungenen Analogieszenen in Augsburg die emotionale Wirksamkeit des Stückes bewiesen haben. Die harten Schnitte unterbrechen oft unerträgliche Eichmann-Szenen und verhelfen durch räumliche und inhaltliche Wechsel zu einer großen Offenheit der Struktur, die das Publikum nicht entmündigt, sondern auch immer wieder Luft holen und eigene Gedanken fassen läßt.

Arno Bergler als Eichmann ist ohne Frage innerhalb des sicheren, aber gelegentlich fehlbesetzten Ensembles ein Ereignis: er spielt sehr nuanciert, ein Grundsympath zunächst, schon mit kleinen pedantischen Gesten, aber doch noch gefestigt; im Laufe der Verhöre bröckelt die Fassade, Eichmann reagiert auf die Lügen, an die er seit Jahren selbst glaubt, mit dem Versacken in sich selbst, mit sparsamen, fahrigen Gesten, um sich nach dem Urteil in eine abschließende verstockt-gelassene Pose zu bringen, seiner Vorstellung von „Würde“ nachzustreben. Der Gefahr eines exaltierten Spiels erliegt Bergler nie; er weiß, daß hier Nüchternheit ungleich größere Wirkungen hervorruft. Fazit: Das Warten auf eine gelungene Strichfassung geht auch nach dieser Inszenierung weiter; es bleibt zu hoffen, daß sie nach einigen Jahren ohne „Bruder Eichmann“ das Eis gebrochen hat für weitere Inszenierungen.

Heinar Kipphardt: „Bruder Eichmann“. Regie: Jürgen Scheller, Ausstattung Jorge Villarreal. Mit Arno Bergler, Uwe Rathsam und Heide Schroff. In der Augsburger Komödie. Nächste Vorstellung: 16. Februar

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