: An vier Fronten
Robert Bartlett beschreibt die Entstehung Europas als Expansion in alle Himmelsrichtungen ■ Von Hartmut Kugler
Die Zukunft der Europäischen Union braucht eine Vergangenheit, die zu ihr paßt. Geschichtsforscher aller Sorten versuchen sich derzeit an der großen Aufgabe: Das Arsenal der historischen Möglichkeiten, der verwirklichten wie der verwirkten, so aufzubereiten, daß es für eine Strategie der Europäisierung taugt. Den jüngsten Großversuch hat der britische Historiker Robert Bartlett unternommen. Sein Buch mit dem Titel „The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change, 950–1350“ (London 1993) liegt seit kurzem auf deutsch vor. Es transportiert, grob vereinfacht, zwei Botschaften, eine negative und eine positive. Die negative: Die europabildenden Kräfte waren immer recht aggressiv. Die positive: Die Bewohner der Britischen Inseln waren an der Formierung Europas von Anfang an und kräftig beteiligt; kein Grund also für englische Europafeindlichkeit und Splendid Isolation.
Bartletts Europa beginnt im 10. Jahrhundert. Dessen gemeinsamer Nenner ist die lateinische Christianitas, die Grenzen sind eng und auf allen Seiten bedroht. Doch Kerneuropa trotzt seinen Feinden und bewerkstelligt eine rund 400 Jahre lange Periode des Aufbruchs und Ausbruchs, der Expansion nach allen Himmelsrichtungen. Bartlett skizziert sie an vier Frontabschnitten: auf der Iberischen Halbinsel (Reconquistà), in Mittel-Osteuropa (sogenannte Ostkolonisation), in Süditalien, östlichem Mittelmeerraum (Kreuzfahrerstaaten) und auf den Britischen Inseln. Uns Festlandeuropäern ist am wenigsten geläufig, was Bartlett als vierte Expansionsfront ausgiebig präsentiert: die der Engländer gegen die Waliser, Schotten und Iren. Europas Gründerzeit als Expansionsgeschichte – das mag eine historische Wahrheit sein, es ist aber eine abstrakte, programmverpflichtete. Denn das europäische Mittelalter läßt sich auch anders rhythmisieren.
Eine Euronorm des Eroberns
Läßt man es um 700 beginnen, fällt die Eroberung der Iberischen Halbinsel durch die Araber hinein, also das Gegenteil von Expansion. Nach 1350 geht Südosteuropa an die Türken verloren – auch keine Expansion; und die meisten Kreuzfahrerstaaten hatten nur eine kurze Herrlichkeit. Bartlett provoziert eine Gegenthese: Europa entstand auf Druck von außen, als Resultat von Kompression.
Wie zwischen vier Fernsehprogrammen zappt er zwischen den vier Expansionsgebieten hin und her, und was er dabei an gemeinsamen Mustern und Techniken des Eroberns, des Sicherns, des Kolonisierens herauspräpariert, ist bedenkenswert. Es scheint im Hochmittelalter tatsächlich so etwas wie eine Euronorm des Eroberns und den dazugehörigen Typ des Eroberers gegeben zu haben. Er konnte von den Gegnern mit dem Sammelnamen des „Franken“ bedacht werden – einem Kürzel für den „aggressiven Westeuropäer“. Dessen Energie speiste sich aus einer brisanten Mixtur von wirtschaftlicher Not, Abenteuerlust, Standesstolz und religiösem Sendungsbewußtsein. Und aus kriegstechnischer Überlegenheit. Die Frontbilder ähnelten sich in Ost und West. Wenn halbnackte Krieger gegen eine Phalanx von Panzerreitern und Bogenschützen anrannten und, von Pfeilen gesprickt, zu Märtyrern ihres Volkes wurden, so können das gerade so gut Schotten gegenüber Engländern wie Litauer gegenüber Deutschorden sein.
„Frank“ bedeutete auch „Freiheit“
Die kriegerische Pointierung der ersten vier Kapitel mag das deutsche Verlagslektorat dazu ermutigt haben, aus dem nüchternen Originaltitel („The Making of Europe“) teutonisch bombastisch eine „Geburt Europas“, und noch dazu eine „aus dem Geist der Gewalt“ zu machen. Diese Titelversion drapiert sich modisch eurokritisch und trifft die Sache und das Buch nur halb.
Denn das Wort „frank“ konnotierte nicht nur „Aggressivität“ sondern auch „Freiheit“. Die Aussicht auf Freiheiten, Bewegungsfreiheit, Besitzfreiheit, Abgabenfreiheit, war ein mächtiger Antrieb für mittelalterliche Neusiedlerströme. Das freie Dorf, die freie Stadt lockten mit Privilegien, die einzuräumen viele Landesherren sich genötigt sahen, um einem chronischen Arbeitskräftemangel zu steuern. Über drei Kapitel breitet Bartlett die „friedliche“ Seite der Expansion aus, manchmal fast mit schlechtem Gewissen. Denn es ist nicht leicht, der Zweispurigkeit des Expansionismus gerecht zu werden, zu registrieren, wie neben der Blutspur die Pflugspur lief, wie Äcker bestellt und Stadtgrundrisse gezeichnet wurden.
Erkennbar wird in diesem Zusammenhang ein Defizit im Ansatz der ganzen Untersuchung. Sie ist zu eindeutig auf „Expansion“ festgelegt und bleibt auf seiten derer, die da zu expandieren versuchen. Die andere Seite, auf deren Kosten expandiert wird, kommt nur gelegentlich zur Sprache. Die Formulierung einer „kulturellen Gegenwehr“ fällt erst drei Seiten vor Schluß.
Überdies fehlt Bartlett an wichtigen Stellen der Begriff des Transfers. Er spricht von „innerer Expansion“ und behält die Horizontlinie militärischen Denkens bei, selbst dort, wo die Übernahme und Anpassung von Kulturtechniken, wo Wechselseitigkeit das eigentlich Interessante wäre.
Bartletts Mittelalterstudie ist im stillen auch eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kolonialismus – mit einem britischen Problem, das als gemeineuropäisches begreiflich werden soll. „Die Struktur der italienischen Kolonialimperien des Hochmittelalters weist einige Ähnlichkeiten mit dem britischen Empire des Jahres 1900 auf – eine Kette von Inseln und Küstenvorsprüngen entlang der Haupthandelswege, welche die Metropole mit weit entfernten Märkten verbanden.“ Eine solche Einsicht entlastet den neuzeitlichen Kolonialimperialismus oder entkrampft zumindest die Auseinandersetzung damit. Sie fördert den Gedanken, daß es Kolonienbildungen schon lang und eigentlich seit je gab und sie quasi zu den Naturformen der menschlichen Existenz gehörten, zumindest der europäischen. Hinter den stark betonten Gemeinsamkeiten verblassen die Eigenarten der einzelnen Völker und Landschaften weitgehend. Ihr geschichtsbildendes Potential zeigt sich nur, wo es am Europawerk baut oder sich ihm widersetzt. Eine arge perspektivische Täuschung, zweifellos. Befremdlich obendrein, daß so oft von den „Rassen“ die Rede ist.
„Rassenbeziehungen, Macht und Blut“
Besonders schrecklich die Überschrift des 9. Kapitels: „Rassenbeziehungen an den Grenzen des lateinischen Europa (2): Macht und Blut“. Als habe Houston Chamberlain, der Lieblingstheoretiker der Nazis, dem Autor die Hand geführt. Der Inhalt der Kapitel liest sich indes ganz erträglich. Die Karriere der „Rasse“-Vokabel scheint ein Übersetzungsproblem zu sein. Das englische race ist wohl (weil mit weiterem Bedeutungsspektrum versehen und homonym mit race = „Rennen“) weniger ideologisch verkantet als das deutsche Wort „Rasse“, das in der Wissenschaftssprache verständlicherweise sparsam verwendet wird. Dem Übersetzer Henning Thies, dessen Arbeit ansonsten recht ordentlich wirkt, hat hier die Sensibilität gefehlt. (Es ist teils kurios, teils ärgerlich, wenn immer wieder etwa Italiener und Griechen oder Polen und Deutsche als Angehörige verschiedener „Rassen“ – unsinnige Entsprechung zu lateinisch gentes – nebeneinander stehen.)
Bartletts Europa sortiert sich nach einer strikten Ordnung von Zentrum und Peripherie. Den Kern bilden die Gebiete des Karolingerreiches plus England. Neu ist der Ansatz nicht. Schon Adenauer und de Gaulle haben den karolingischen Nukleus bei den Aachener Karlsfeiern 1965 beschworen. Neu ist allenfalls die Unbekümmertheit, mit der hier ein germanozentrisches Konstrukt zum Kerneuropa erklärt ist: „fränkisches“ Mittelstück mit „normannischen“ und „sächsischen“ Seitenteilen. Die Konstruktion mag, weil sie so einfach ist, eine gewisse Plausibilität haben. Nur ist sie weder selbstverständlich noch ohne Konkurrenz. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde 1957 in Rom gegründet, die „Römischen Verträge“ erinnerten absichtsvoll ans „Römische Reich“. Die historische Suggestionskraft des Imperium Romanum war in der europäischen Politik ungleich mächtiger als die des Karolingerreiches.
Aus einer Art Brüsseler Perspektive
Für den Fortbestand des Heiligen Römischen Reiches meinten die deutschen Kaiser bis 1806 zuständig zu sein. Die alten Römer hatten das Mittelmeer „unser Meer“ genannt, und die Politik der europäischen Mächte fühlt sich diesem Possessivum bis heute verpflichtet.
Bartletts Europa-Konstrukt verdankt sich einer anderen Interessenlage und einem anderen Blickwinkel, gewissermaßen der Brüsseler Perspektive. Bei ihm lag Rom über die entscheidenden Jahrhunderte hin am Rande. Süditalien, Spanien und Portugal, erst recht Griechenland, auch Skandinavien, Osteuropa sowieso – sie alle hatten in der Phase des „Making of Europe“ nur periphere Positionen. Das ist, folgt man Bartletts monozentrischer Logik, ganz richtig; folgt man ihr nicht, dann ist es ganz falsch. Denn natürlich gibt es andere Europa-Konzepte und andere Geschichtsbücher über das europäische Hochmittelalter, gibt es historische Felder und Mächte, über die Bartlett schweigt. Zu den hochmittelalterlichen „Machern“ Europas gehört zweifellos der Staufenkaiser Friedrich II. Dieser prägendste Herrscher des 13. Jahrhunderts hat sein Reich von der Peripherie aus regiert. Er saß am liebsten in Sizilien und ging nordwärts über die Alpen nur, wenn es unbedingt sein mußte. Solche Exzentrik paßt in Bartletts Schema nicht hinein, und folglich ist der Staufenkaiser im Buch nicht ein einziges Mal erwähnt.
Bartletts Buch läßt sich mit Gewinn studieren, wenn man im Auge behält, daß er ein begrenzt gültiges Schema ausfüllt und daß es andere gibt. Das geht auch gar nicht anders. Die europäische Einheitswährung mag vernünftig sein. Aber Einheitsgeschichtsschreibung? Lieber nicht.
Robert Bartlett: „Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350.“ Kindler Verlag, 508 S. mit Abb., 78 DM
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