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An die Peripherie des Molochs

Paris ist für Familien mit mittleren Einkommen unbezahlbar geworden / Viele Großstädter wollen „wegen der Kinder“ in die Provinz  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Als er jung war und unternehmungslustig, die Bars seiner provinziellen Heimatstadt längst erobert hatte und „etwas erleben“ wollte, zog François* nach Paris. Dort machte der Ostfranzose eine Ausbildung als Automechaniker, fand eine Anstellung im Staatsdienst und wurde Beamter. Beinahe zwei Jahrzehnte ist das her. Heute lebt er in einer Zweierbeziehung, ist Vater eines zweijährigen Mädchens, und sein umtriebiges Nachtleben gehört der Vergangenheit an. Seit das Baby da ist, lebt die Familie in einer Sozialwohnung in der westlichen Banlieue. Drei Zimmer, eine erschwingliche Miete, eine S-Bahnstation in Sichtweite und nur eine halbe Stunde Fahrzeit in die große Stadt – davon können die meisten der zehn Millionen BewohnerInnen des Pariser Großraums nur träumen.

Doch François will mehr. Er träumt von Ruhe, vom Radfahren, von frischer Luft und von Wiesen, auf denen seine Tochter spielen kann: Es zieht ihn zurück in die Provinz. Seit Jahren bemüht er sich um seine Versetzung. Als erste Präferenz hat er die Mittelmeerküste angegeben, aber auch die Landesmitte und beinahe jeder andere Ort wäre ihm recht. Er will nur seine Beamtenstellung nicht verlieren. Denn das ist die einzige Einnahmequelle, seit seine Freundin Sandrine* arbeitslos ist und sich um die Tochter kümmert.

Paris mit seinen zwei Millionen EinwohnerInnen intra muros ist für Familien mit mittleren oder gar niedrigen Einkommen unbezahlbar geworden, die vorherrschenden Ein- und Zweizimmerwohnungen sind unerschwinglich. Seit 1977, als Jacques Chirac seinen Posten als Bürgermeister antrat und die systematische „Verschönerung“ von Paris begann, wurden Hunderttausende von Wohnraum- Quadratmetern in Büros umgewandelt, verließen weit über 100.000 Arbeiter und Angestellte, darunter besonders viele ImmigrantInnen, die Stadt; an ihrer Stelle zogen Besserverdienende nach. Die günstigen Unterkünfte fielen fast alle den Sanierungen zum Opfer. Heute ist Paris die Stadt der Singles – junge, die gut verdienen, und alte, die nach dem Wegzug der Kinder und dem Tod des Partners wieder aus der Banlieue zurückkehren. Und der kinderlosen Paare, der gutsituierten europäischen BewohnerInnen.

Der große Teil der Bevölkerung des Pariser Großraums lebt zwangsläufig in den Vorstädten – in großen Wohnsilos oder Reihenhäusern mit kleinen Gärten. Aufenthaltszeiten von zwei und drei Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln sind keine Seltenheit.

Präferenz hat die Mittelmeerküste

An dem Sog des Molochs Paris hat sich durch diesen Rhythmus von metro, boulot, dodo – Metro, Job, Schlafen – wenig geändert. Nach wie vor gilt, daß es in Paris Arbeit, aber keine Wohnungen und in der Provinz Wohnungen, aber keine Arbeit gibt. In dem zentralistisch organisierten Land führt kein Weg an der Hauptstadt vorbei. Das alte Ungleichgewicht zwischen dem dichtem Getümmel in Paris und den menschenleeren Flächen im Landesinnern ist geblieben.

Dennoch greift seit einigen Jahren eine Bewegung von GroßstädterInnen Raum, die weg wollen aus den Metropolen. Meist sind es junge Familien, bei denen die Kinder den Ausschlag geben. Der Wunsch nach „Arbeit auf dem Lande“, Landwirtschaft gar, spielt dabei kaum eine Rolle. Die Stadtflüchtlinge, meist Angestellte, wollen ihre Tätigkeit keineswegs aufgeben. Und gerade das macht die Sache oft noch schwieriger.

Chantal und Daniel sind beruflich unabhängig – sie übersetzt, er malt – und haben von daher weniger Probleme, Paris zu verlassen. Nach sieben Jahren in der Hauptstadt wollen sie „einen Garten für die beiden Kinder haben“. In Paris könnten sie sich das nicht leisten. Ihre Pariser Eigentumswohnung ist im Prinzip wertvoll genug, um sie gegen ein großes Haus mit Garten einzutauschen. Seit einem Jahr suchen sie einen geeigneten Käufer. Ihr Handicap ist die Krise, die die Pariser Immobilienpreise in den Keller getrieben hat.

Auch François und Sandrine müssen vorerst in Paris bleiben. Bei der letzten Versetzungsrunde ist François wieder nicht berücksichtigt worden. Auch wenn sich sein Aufenthalt in der Traumstadt Paris damit um mindestens ein Jahr verlängert, will die kleine Familie nicht aufgeben. Sie plant gerade das zweite Kind – und damit ein zusätzliches Argument für die Flucht aufs Land.

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