: An der Wurzel
Martin Amis erinnert sich in „Hauptsachen“ an sein bisheriges Leben als Schriftsteller und Sohn
VON ALEXANDER LEOPOLD
Zu den beliebten Abwehrmechanismen vieler Schriftsteller gehört es, autobiografische Bezüge in ihren Romanen so weit wie möglich von sich zu weisen. Auch der britische Schriftsteller Martin Amis hat auf die Frage, wie viel von seinem Leben in seinen Büchern drinstecke, oft und gern mit Nietzsche geantwortet: „Das eine bin ich, das andere sind meine Schriften“. Denn er weiß: So manches erklären und nachreichen, schönen und verdecken kann man schließlich am besten in Büchern, die ausdrücklich keine Romane sind, in Büchern, die etwa „Mein Leben als Mann“ oder „Selbst-Bewusstsein“ heißen. Kein Schriftsteller lässt sich eben sein Leben einfach so „wegnehmen“, wie John Updike das einmal entrüstet nannte, „seine Goldmine, seinen Hort an Erinnerungen“.
Also hat sich Martin Amis vor sechs Jahren im Alter von 51 Jahren an seine Memoiren gesetzt: „Experience“, 2000 in England erschienen und jetzt, mit gehöriger Verspätung, in einer deutschen Übersetzung mit dem Titel „Hauptsachen“. Der Tod seines Vaters im Jahr 1995 sei der Auslöser dafür gewesen, so Amis: seiner zu gedenken, aber auch, „weil mich die gleichen Dinge bewegen wie jeden anderen. Ich möchte einiges richtig stellen […], und ich will ausnahmsweise einmal ganz kunstlos sprechen. Wenn auch nicht formlos.“
Tatsächlich ist „Hauptsachen“ mehr als ein „Mein Leben als Sohn“-Buch geworden, mehr als nur ein Vaterbuch. Es ist ein Buch über Amis’ Leben und seine Toten, über seine Jugend und ersten literarischen Gehversuche, über sein Dasein als prominenter Schriftsteller, über seine Probleme mit den Zähnen (tatsächlich!) und nicht zuletzt über seine Liebe zur Literatur.
Nun mag Amis seinem Buch einiges an Form gegeben haben, etwa indem er jedem Kapitel Briefe aus dem College an seine Eltern voranstellt, in dem er nicht mit Fußnoten geizt oder das Buch gliedert in zwei große Hauptteile. Trotzdem ist es, wie sympathischerweise so viele Schriftsteller-Erinnerungsbücher (im Gegensatz zu Biografien fremder Autoren!), nur lose chronologisch. Vergangenheit und Gegenwart sind in „Hauptsachen“ eins, Amis ist nur zu gern „der Lieblingsneigung von Romanautoren nachgekommen, überall Parallelen zu sehen und Zusammenhänge herzustellen“.
Das macht sein Buch zunächst zu einer sperrigen Angelegenheit. Nicht nur, dass sein Vater Kingsley Amis hierzulande ein unbekannter Autor ist und der Sohn Kingsleys Leben und Literatur ambitioniert miteinander verhakelt; auch Martin Amis’ große Zeit ist ein paar Jährchen her: In den Achtziger- und mittleren Neunzigerjahren glänzte er mit intelligenten, wortmächtigen und ästhetisch gewitzten, mit bösen, apokalyptischen und oft komischen Romanen wie „Gierig“, „1999“ und „Information“, in denen egomanische und perverse Helden ihr Unwesen trieben und sich nach Ruhm und Geld verzehrten.
Waren das Privatleben von Amis oder etwa ein exorbitanter Buchvorschuss für ihn in England oft talk of the town, mehr noch als seine Literatur, so gelangten seine Bücher in Deutschland in der Regel erst Jahre später auf den Markt. Als sich das änderte und Romane wie „Information“ und „Night Train“ relativ zeitnah ins Deutsche übersetzt wurden, war der große Zauber um Amis vorbei. Da passt es, dass sich hierzulande mit Hanser inzwischen der vierte Verlag nach Zsolnay, Rowohlt und Fischer bemüht, für Amis ein größeres Publikum zu erschließen. Nach dem Reinfall vor zwei Jahren mit dem äußerst schwachen Roman „Yellow Dog“ – eine Mischung aus rabiatem Leerlauf und hohler Kraftmeierei, ein trauriger Anklang an seine Erfolgsbücher – fragt sich, ob das nun mit diesem genauso erratischen wie ungewöhnlich persönlichen Memoirenbuch gelingt.
Schön wäre es, denn „Hauptsachen“ ist mit Abstand das Beste, was Amis seit langem geschrieben hat. Diskret und verschwiegen, gerade was seine Liebesbeziehungen angeht, ist es dennoch ein immens reiches, empfindsames und sowieso intelligentes Buch: Martin Amis, bekannt als eitler Haudrauf, zeigt sich hier von seiner sensiblen Seite. Er erkennt Lebensmuster, dreht Erinnerungsspiralen und berichtet über Trennungen (weniger) und Verluste (mehr), über Vaterliebe- und Vaterverzweiflungen (noch mehr) und auch über Vaterfreuden in höherem Alter.
Anrührend beschreibt er das Sterben seines Vaters, schroff und kritisch geht er indes mit Kingsleys persönlichen und politischen Lebens- und Wesensveränderungen um, und er reflektiert dessen Tod immer wieder vor dem Hintergrund zweier anderer Todesfälle in der Familie: der Ermordung seiner Cousine Lucy Partington durch Frederic West, einem der schlimmsten Serienmörder in der Geschichte Großbritanniens, von der Amis erst 21 Jahre später erfährt. Und dem Aids-Tod des Bruders seiner neuen Frau Isabel Fonseca.
Gewissermaßen verklammern tut er das Ganze mit seinen kranken Zähnen, deren teure Behandlung in den Neunzigerjahren Stoff für auch für Boulevardmedien war: „Als mein Vater sich in den Sechzigerjahren die Zähne richten ließ, berichteten die Zeitungen nicht darüber. […] Meine Zähne machten Schlagzeilen.“ Amis litt jahrelang unter höllischen Schmerzen, eine teure kieferchirurgische Operation war für ihn lebensnotwendig. Es fragt sich natürlich: Was ist an den Zahnproblemen eines Schriftstellers interessant? Doch weiß Amis seine Malaisen unterhaltsam in den Themenkomplex „Zähne und Literatur“ aufgehen zu lassen. Er stellt sich, durchaus anmaßend, in einen Zusammenhang mit Nabokov und Joyce, als dritter „Stilkünstler“ mit schlechten Zähnen. Und er kommt davon auch wieder runter, indem er einsieht, die einzige Gemeinsamkeit seien eben diese schlechten Zähne. „Dentales Transzendieren“ sind für ihn diese Verbindungen, und er zitiert dann ehrfürchtig und literaturdetektivistisch aus „Finnegan’s Wake“ und „Pnin“.
Den Verlusten, von Zähnen und Menschen, und auch dem Ende von langjährigen Freundschaften wie mit dem Schriftsteller Julian Barnes oder dem Biografen des Vaters, steht in „Hauptsachen“ aber auch immer wieder Lebenszuwachs gegenüber, alltägliche Wunder und alltägliche Katastrophen eben: Seine älteste Tochter lernt Amis erst kennen, als diese schon 17 ist. Und in den schwierigsten Phasen mit Kingsley gewinnt er Anfang der Achtzigerjahre einen anderen väterlichen Freund, einen zweiten literarischen Vater: Saul Bellow, der in diesem Jahr starb. Dessen zwangloser Umgang mitautobiografischem Schreiben ist bekannt, gern zitierte er einen Ausspruch von Alberto Moravia: „Ein Schriftsteller schreibt immer nur über sich. Seine Bücher sind eine höhere Form von Autobiografie.“ Oder: „Was können Sie über mich enthüllen?“, fragte Bellow einst einen Biografen, „was ich nicht bereits selbst über mich enthüllt habe?“
„Hauptsachen“ mag einer niederen Form angehören, mag jetzt zur Entschlüsselung seiner Romane einladen, zumal Amis ganz im Sinn von Bellow auch hie und da Hinweise gibt, etwa wie tief er selbst als Person in „Gierig“ oder „Night Train“ drin gesteckt hat. Bemerkenswert ist es allemal – ein solitäres Buch, ein Lebens- und Erinnerungsbuch, das eine ganz eigene literarische Leistung darstellt.
Martin Amis: „Hauptsachen“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Carl Hanser Verlag, München 2005, 456 Seiten, 24,90 €