American Football Zum Saisonstart steckt die NFL in einer moralischen Krise. Gesundheitsrisiken und ein Betrugsfall dominieren die Debatten: „Schauspiel der Gewalt“
von Thomas Winkler
Es war ein Fest. Das Stadion voll, die Stimmung zuerst feierlich, dann aufgekratzt. Die New England Patriots eröffneten die Saison der National Football League gegen die Pittsburgh Steelers. Während der Rest der Liga am Sonntag startet, gehörte dem amtierenden Super-Bowl-Sieger am Donnerstag die Bühne allein. Und die wurde genutzt: Vor dem Kickoff wurde dem Publikum der im Februar gewonnene Pokal präsentiert, dann das neue Meisterschaftsbanner gehisst. Anschließend feierten die knapp 70.000 Zuschauer einen 28:21-Sieg. Held des Abends war Tom Brady. Der Quarterback der Patriots warf vier Touchdowns und sezierte wie gewohnt mit chirurgischer Präzision die Verteidigung der Steelers.
Die NFL ist zurück und mit ihr die große Show. Das Milliardengeschäft Football boomt, nicht nur in den USA. Als die Patriots ihren vierten Titel gewannen, sahen hierzulande bis zu 1,6 Millionen zu. Kein Vergleich zu den 111 Millionen Amerikanern, aber angesichts der nachtschlafenden Übertragungszeit doch eine erstaunliche Zahl. Deshalb wird in den kommenden Monaten in Deutschland so viel Football im frei empfangbaren Fernsehen zu sehen sein wie nie zuvor: Der Spartensender ProSieben MAXX überträgt jeden Sonntag zwei NFL-Spiele live und zu den Playoffs steigt dann Sat.1., das Flaggschiff der Senderfamilie, ein.
Während in Europa die Begeisterung zunimmt, mehren sich in den USA die Vorbehalte. Die TV-Quoten sind zwar noch astronomisch, die Spiele nahezu alle ausverkauft, der Umsatz liegt bei jährlich ungefähr 10 Milliarden Dollar, und bis zum Jahr 2027 streben die Ligaverantwortlichen gar 25 Milliarden an. Aber die Euphorie hat zuletzt Dämpfer bekommen: Selbstmorde von Exspielern und juristische Auseinandersetzungen über die gesundheitlichen Risiken des Footballs bestimmen die öffentliche Diskussion. Mittlerweile gibt es Stimmen, die Football völlig verbieten lassen wollen. Die NFL, darüber kann auch die Auftaktparty in Boston nicht hinwegtäuschen, steckt in einer Krise. Noch nicht in einer finanziellen Krise, aber doch in einer moralischen.
Zu der hat auch der Held der Eröffnungspartie beigetragen. In Boston wird Brady als Säulenheiliger gefeiert, im Rest der Landes gilt er als Betrüger. Dass seine Sperre über vier Spiele, die er in seine Verwicklung ins sogenannte Deflategate aufgebrummt bekommen hatte, kurz vor der Saison aufgehoben wurde, ändert an dieser Wahrnehmung wenig. Dass Brady, das Aushängeschild der Liga mit dem Sonnyboy-Image, der vielleicht beste Quarterback aller Zeiten und als Kontrollfreak berüchtigt, nichts davon gewusst haben soll, dass Patriots-Angestellte im Playoff-Halbfinale die Spielbälle manipuliert hatten, mag außerhalb von Boston niemand glauben. Dass ein Richter nicht nur die Sperre für nichtig erklärte, sondern der Liga noch einen „intransparenten und unfairen“ Umgang mit Brady bescheinigte, war extrem peinlich für den als beratungsresistent geltenden Liga-Chef Roger Goodell. „Wir haben alle verloren“, kommentierte Brady den Richterspruch.
Noch gefährlicher für das Image der NFL aber ist jemand, der gar nicht mehr Football spielt. Im März erklärte Chris Borland seinen Rücktritt. Als Grund gab der Verteidigungsspezialist von den San Francisco 49ers, der nur ein einziges Jahr in der NFL absolviert hatte, an: Angst vor Schädel-Hirn-Trauma. Er wolle, so der 24-jährige Borland, auch in einigen Jahren noch mit seinen Kindern spielen können. Welche Langzeitschäden der Job Footballprofi haben kann, wurde Borland und der Öffentlichkeit dann Ende August noch einmal vorgeführt: Der an Depressionen leidende Erik Kramer, in den neunziger Jahren ein durchschnittlicher NFL-Quarterback, überlebte einen Selbstmordversuch nur knapp. Vergangene Woche schließlich löste der Jungprofi Adrian Coxson, nachdem er im Training eine schwere Gehirnerschütterung erlitten hatte, seinen Vertrag bei den Gren Bay Packers auf, bevor er ein einziges NFL-Spiel bestritten hatte.
Es sind solche Vorfälle, die die Amerikaner gerade an ihrem Lieblingssport zweifeln lassen. Die Öffentlichkeit wirklich aufgerüttelt aber hat der Rücktritt von Borland: Der war schließlich kein Gewesener, sondern auf dem besten Weg zum Star. Stattdessen muss Borland nun einen Großteil des 617.000-Dollar-Bonus abstottern, den er bei Vertragsabschluss bekommen hatte. „Ich liebe Football“, sagt Borland, der sich der Forschung als Versuchskaninchen zur Verfügung stellt, „aber es ist ein Schauspiel der Gewalt, und wir sind die Darsteller.“
Dass einer wie Borland eine Karriere als Footballstar aufgibt, den Traum wegwirft, den nahezu jeder männliche US-Amerikaner träumt, löste einen Shitstorm aus, der vor allem eines offenbarte: eine bislang unbekannte Verunsicherung.
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