: Am schwärzesten Fluß der Welt
In Wuppertal, der Heimatstadt der Else Lasker-Schülers, entsteht endlich eine kritische Ausgabe ihrer Werke ■ Von Stefan Koldehoff
Um einen autobiograpischen Lebenslauf hatte der Berliner Rowohlt-Lektor Kurt Pinthus gebeten. Vorgesehen war er für die von ihm herausgegebene Anthologie expressionistischer Lyrik Menschheitsdämmerung. Else Lasker-Schüler schickte nur zwei Sätze, die trotzdem alles sagten: „Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich.“
Wesentlich konkreter sollten auch in ihren späteren Lebensjahren die Selbstzeugnisse der Dichterin nicht werden. Fragen nach ihrer Herkunft und Entwicklung beantwortete die sonst so extrovertierte Frau mit einer Mischung aus ehrlicher Scheu und jener poetischen Selbstinszenierung, in der die fiktiven Erlebnisse ihres selbsterschaffenen alter ego „Prinz Jussuf“ so weit mit den realen eigenen verschmolzen, daß sich jedes Insistieren auf das Faktische von selbst verbat. Einzig an Kindheit und Jugend in Elberfeld, von wo aus sie 1894 25jährig (nach ihrer Heirat mit dem Arzt Dr.Jonathan Berthold Lasker) nach Berlin zog, erinnerte sich Else Lasker-Schüler gern und ausgiebig. Vor allem in den späteren Lebensjahren wurden diese Erinnerungen Inhalt von Dichtungen und Briefen, obwohl auch in der Heimatstadt inzwischen ihre Bücher gebrannt hatten. Antisemitische Ressentiments hatte die Tochter des jüdischen Privatbankiers Aaron Schüler und seiner Frau Jeanette schon als Schulkind vor der Jahrhundertwende in der calvinistischen Industriestadt wahrgenommen. Selbst sie vermochten aber bis ins hohe Alter nicht, die rührselig-verklärende Kindheitsidylle zu trüben: „Ich erlebte als Schulkind schon einige antisemitische Aufstände auf dem Heimweg nach Schulschluß. Weinend betrat ich unser schönes Haus. Selbst meiner teuren Mutter Liebe vermochte mich nicht zu trösten“, erinnert sich die gebürtige Elberfelderin in einem Text aus ihrem Nachlaß, um das Erlebte gleich zu relativieren: „Doch von unserem hohen Turm wehte immer fröhlich die Fahne.“ Nach der Heirat sollte sie ihre Heimat nicht mehr wiedersehen.
Nachdem sie in Berlin durch ihre Gedichtbände, durch Geschichten, Essays und das sozialbewußte Drama Die Wupper, vor allem aber durch die großartige Selbstinszenierung in der Künstlergesellschaft um Georg Trakl, Gottfried Benn, Franz Marc, Johannes Holzmann und ihren zweiten Ehemann Herwarth Walden bald zu einer Berühmtheit geworden ist, muß die Jüdin am 19.April 1933 nach Zürich emigrieren. Noch ein Jahr zuvor war der Dichterin, deren anfangs umstrittene, vorwiegend in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte Werke mittlerweile allgemein anerkannt und geschätzt wurden, für den „überzeitlichen Wert ihrer Verse, der den ewiggültigen Schöpfungen unserer größten deutschen Meister ebenbürtig ist“, der Kleistpreis verliehen worden. Gottfried Benn telegrafierte nach Bekanntgabe der Auszeichnung: „der kleistpreis so oft geschaendet sowohl durch die verleiher wie durch die praemierten, wurde wieder geadelt durch die verleihung an sie ein glueckwunsch der deutschen dichtung.“
Anderer Meinung war der 'Völkische Beobachter‘. Er kommentierte am 18.November 1932 unter der Überschrift „Die Tochter eines Beduinenscheichs erhielt den Kleistpreis“: „Wir meinen, daß die rein hebräische Poesie der Else Lasker- Schüler uns Deutsche gar nichts angeht und empfehlen Herrn Ziegel [Erich Ziegel, Herausgeber des Kleistpreises; Anm.d.Verf.], zu der erwähnten ,kleinen‘, aber zweifellos jüdischen ,Gemeinde‘ überzutreten, was ja gerade ihm nicht schwerfallen dürfte, einem der vorbildlichsten Träger marxistisch-jüdischer Systemkultur. Hat er doch in den Hamburger Kammerspielen immer wacker für Dekadenz und Perversitäten gestritten.“
Der literarische Erfolg schlägt sich auch finanziell nicht nieder. Immer wieder erscheinen in den einschlägigen Kulturzeitschriften Spendenappelle für die exilierte Lyrikerin. Von ihrer dritten Palästina-Reise kann sie 1939 durch den Kriegsausbruch in Europa nicht in die Schweiz zurückkehren. Völlig verarmt stirbt Else Lasker-Schüler am 22.Januar 1945 um 7.25Uhr nach einem schweren Anfall von Angina pectoris in einem Jerusalemer Krankenhaus. Die letzten Porträtzeichnungen, die der israelische Künstler Miron Sima kurz zuvor geschaffen hatte, wirken wie Illustrationen zu Franz Werfels Beschreibung der Prophetin Hulda: „Hulda war eine kleine verwitterte Frau. Sie schwankte, wenn sie über die Straße ging, wie eine Betrunkene und pflegte mit sich selbst zu murmeln und zu hadern. Ihre Kleidung war ungewöhnlich wie sie selbst. Auf dem Kopf trug sie kein Tuch wie andere Frauen, sondern eine breite Fellmütze, und zu allen Stunden klirrenden Schmuck, der wertlos war.“ Das Grab Else Lasker-Schülers wurde 1967 auf der arabischen Seite des Ölbergs wiedergefunden.
In Wuppertal gibt es heute nicht mehr viel, was auf den ersten Blick noch an Else Lasker-Schüler erinnert. Den einstigen Standort des Geburtshauses in der Elberfelder Herzogstraße hat die größte Buchhandlung der Stadt eingenommen. In seiner Nähe wurde 1983 auch ein Denkmal mit dem Mosaikporträt der Dichterin aufgestellt. Eine Gesamtschule liegt zwar in der Else-Lasker- Schüler-Straße, traut sich aber nicht, ihren Namen auch offiziell zu führen. Und natürlich gibt es seit zwei Jahren in Wuppertal auch eine rührige Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft...
Wer Else Lasker-Schüler in ihrer Heimatstadt näherkommen will, muß jedoch schon hinter die Fassaden der Bürgerhäuser sehen. Im städtischen Von-der-Heydt-Museum etwa hängt seit 1986 wieder das von den Nazis als „entartet“ beschlagnahmte Porträt, das der mit ihr eng befreundete jüdische Maler Jankel Adler 1924 von der 55jährigen schuf. Nur einen Katzensprung davon entfernt sammelt seit vielen Jahren auch die Wuppertaler Stadtbibliothek Archivalien für ihr Else- Lasker-Schüler-Archiv. Neben allen verfügbaren Ausgaben ihrer Werke stehen der Forschung hier auch 300 Handschriften, ungezählte Fotografien, Zeitungsausschnitte und Sekundärliteratur zur Verfügung, die das Institut in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen und ausgewertet hat. „In den Fünfzigern kostete eine handschriftliche Postkarte mit Zeichnung gerade mal 15Mark“, erinnert sich Dr.Klaus Weyand, der die bibliophilen Kostbarkeiten hütet. „Heute bin ich froh, wenn ich ein Exemplar für 3.000Mark ersteigern kann.“ Die städtische Sammlung steht nach Voranmeldung jedem Interessierten für Forschungszwecke zur Verfügung. Der gern und oft von Kritikern kolportierte Vorwurf, die Stadt habe ihre große Tochter vergessen, stimmt so also nicht. Die Auseinandersetzung mit Else Lasker-Schüler findet in Wuppertal intensiv statt, nur an die Öffentlichkeit drang sie bisher eher selten.
Dieser Zustand soll sich jetzt ändern. Ihr mittlerweile auch materiell sehr wertvolles Quellenmaterial wird die Stadtbibliothek in Kürze der Bergischen Universität Wuppertal zur Verfügung stellen. Unter der Ägide von Professor Heinz Rölleke soll hier im Germanistischen Institut in den kommenden fünf Jahren endlich die längst überfällige historisch- kritische Gesamtausgabe der Werke von Else Lasker-Schüler entstehen. Während es nämlich eine Reihe sehr sorgfältiger Biographien über die Lyrikerin und Zeichnerin gibt*, sind ihre eigenen Texte bislang, wie Rölleke bewertet, „miserabel ediert“.
Im Münchner Kösel-Verlag liegen zwar seit Ende der fünfziger Jahre Gesammelte Werke in drei Bänden, Sämtliche Gedichte, zwei Briefbände und die theatralische Tragödie IchundIch vor; mit der philologischen Qualität dieser Edition allerdings hadern die Germanisten bereits seit geraumer Zeit. Denn die Ausgaben sind vor allem von dem großen und verdienstvollen Bemühen des Kösel-Verlags geprägt, die Texte nach dem Krieg überhaupt wieder einem größeren Lesepublikum zugänglich zu machen. Dabei unterlief eine Reihe gravierender Fehler. „Die Texte werden in diesen Bänden teils nach der spätesten, teils nach der frühesten Fassung abgedruckt. Varianten bleiben unberücksichtigt“, beschreibt Ulrike Marquardt die Schwierigkeiten. Die Germanistin wird an der Wuppertaler Hochschule die Neuausgabe redaktionell betreuen. „Außerdem ist das Problem der Anordnung der Gedichte nicht befriedigend gelöst. Die Reihenfolge ist weder eine streng chronologische, noch bietet sie das nach den Widmungen Zusammengehörige auch aufeinanderfolgend dar. Das gilt auch für die bisherige zweibändige Briefausgabe. Sie beinhaltet Fehllesungen und läßt Flüchtigkeiten bei der Übertragung von der Handschrift zur Druckschrift erkennen. Viele Briefe oder Briefpassagen fehlen ganz. Die Herausgeberin Margarethe Kupper hat offensichtlich nach eigenem Ermessen gekürzt.“
Überhaupt veröffentlicht sind deshalb bis heute höchstens 60Prozent aller Lasker-Schüler-Texte. Das Drama IchundIch etwa war im dritten Band der Gesammelten Werke (1961) nur in Auszügen abgedruckt , wofür — nach Auskunft der Herausgeberin — „den Ausschlag das offenbare Versagen der sprachlichen Kraft gab“. Erst 1970 veröffentlichte Margarethe Kupper den vollständigen Text im Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft.
Die Hauptaufgabe von Ulrike Marquardt und Professor Heinz Rölleke wird deshalb in den kommenden Monaten vor allem darin bestehen, die Originale oder Kopien sämtlicher hinterlassener Schriften nach Wuppertal zu holen, um sie dann geordnet den BearbeiterInnen der einzelnen Bände der kritischen Edition zugänglich zu machen. Während der größte Teil der Briefe im Deutschen Literaturarchiv in Marbach lagert, bewahrt die israelische Nationalbibliothek in Jerusalem den Nachlaß auf. 1995 soll zum 50.Todestag der Dichterin der erste Band vorliegen, acht weitere werden in den nachfolgenden zehn Jahren folgen. Sie sollen neben den Texten und Briefen auch Zeugnisse von ZeitgenossInnen, Rezensionen und Dokumente zur Rezeptionsgeschichte enthalten. Die Bergische Universität Wuppertal setzt sich mit dieser Edition an die Spitze der deutschen germanistischen Institute. Neben der Else Lasker-Schülers, an der die Universitäten Bonn und Jerusalem mitarbeiten, werden hier auch die Werkausgaben von Brentano, Hoffmannsthal, der Gebrüder Grimm, von Kafka und Böll betreut.
Die Lasker-Schüler-Forschungsstelle in Wuppertal wird vom nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerium mit nur einer Stelle finanziert. Die israelische Buber-Rosenzweig-Stiftung und die Deutsche Gesellschaft für Sprache und Dichtung bezuschussen die kritische Edition mit jährlich bis zu je 40.000Mark. Zusätzliche 10.000Mark pro Jahr schießt Marbach zu. Um die Finanzierung steht es damit nicht schlecht. Unklar ist nach wie vor, wer die zehnbändige Ausgabe verlegen wird. Der Kösel- Verlag in München, der ihr Werk in Deutschland vor dem Vergessen bewahrte, hält immer noch alle Rechte an den Texten Else Lasker-Schülers. Erben gibt es keine: Der einzige Sohn Paul starb schon 1927 im Alter von 28 Jahren an einem Lungenleiden.
Gerade Kösel aber scheint als Verlag der Kritischen Edition heute denkbar ungeeignet. Daß sein Programm mit einer bunten Mischung aus christlichen, meditativen und psychologischen Titeln das dringend gebotene literarische Umfeld gänzlich vermissen läßt, wissen auch die Wuppertaler Lasker-Schüler-Forscher. Sie wünschen sich deshalb die Zusammenarbeit mit einem traditionsreichen jüdischen Verlagshaus in Frankfurt. Verhandlungen werden folgen müssen.
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