■ Am 9. Mai zur Siegesfeier nach Moskau?: Staatszynismus
Während der Zeremonie anläßlich des 50. Jahrestages des Siegs über den Nazismus wird das Massaker in Tschetschenien suspendiert. Das ist die Pseudo-Konzession, die Boris Jelzin jenen Staats- und Regierungschefs einräumt, deren Seelenzustand es noch erlaubt, am 9. Mai in Moskau der Erinnerung an Hitlers Niederlage zu gedenken. Eine List, die simplem, purem Zynismus entspringt. Dennoch scheint klar zu sein, daß dieses Manöver Jelzins ausreichen wird, die letzten Skrupel der 50 Staatsmänner zu beseitigen, die bereits wissen ließen, daß sie sich nach Moskau begeben wollen. Ihre einzige Bedingung war – sie wollen nicht von der Empore herab Truppenkontingente grüßen, die soeben vom Tschetschenienfeldzug ruhmreich heimgekehrt sind. Man kann gar nicht anders, man muß an eine Zeile aus Molières Tartuffe erinnern: „Verbergt diese Einheiten vor mir, die ich nicht sehen darf!“
Kann man angesichts einer Politik der verbrannten Erde und der Flammenwerfer im Einsatz tatsächlich akzeptieren, daß irgendjemand an der Seite von Jelzin den Jahrestag des Untergangs der Nazibarbarei in Europa feiert? Diese Frage ist in den Vereinigten Staaten öffentlich debattiert worden, nicht aber bei uns. Bill Clinton hat sich schließlich entschieden, nach Moskau zu gehen und seinen Aufenthalt dort für einen Mini-Gipfel mit dem russischen Präsidenten zu verlängern. Das geschehe, so Washington, um den russischen Präsidenten darauf aufmerksam zu machen, daß das, was in Tschetschenien passiert, nicht nur die Tschetschenen angehe. Man kann über diese schlecht geschneiderte Rechtfertigung dieser oder jener Meinung sein, und man war es in den USA auch. Man sagte, daß es nur darum gehe, den sowjetischen Opfern des Krieges die Ehre zu erweisen. Man merkte an, daß Jelzin um so weniger sensibel für amerikanischen Druck sein wird, als er den Sechs-Milliarden-Kredit des IWF bereits in der Tasche hat.
Immerhin hat es in den USA wenigstens eine Debatte gegeben. Über die Art und Weise, wie diese ganze Frage in Frankreich aus der Diskussion entfernt wurde, kann man sich nur wundern. Mitterrand war einer der ersten, die sich entschlossen, ohne Konsultation mit den anderen Europäern nach Moskau zu reisen. Es wird interessant sein, wie die beiden Kandidaten für den Elysée-Palast sich zum Thema des Moskau-Besuchs äußern werden. Jenseits der Symbolik des Datums steht die Politik Frankreichs und die der Europäischen Union gegenüber Rußland auf dem Prüfstand. Jacques Amalric
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen