Altötting: Ein Rumtreiber kommt heim
Andreas Altmann hat sich seine traumatischen Erfahrungen mit Familie und Kirche in der katholischen Provinzstadt vom Leib geschrieben.
Von zwei Leibwächtern flankiert las der Autor Andreas Altmann in seiner Geburtsstadt, dem bayerischen Wallfahrtsort Altötting, aus seiner Biografie "Das Scheißleben meines Vater, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend".
Die Altöttinger Nachrichten berichteten von der friedlichen Abendveranstaltung im Graminger Weißbräu: "Ich kannte seinen Vater. Er war ein SS-Mann durch und durch", erzählt eine Zuhörerin am Rande der Veranstaltung. Er habe die Kinder in SS-Manier befehligt und behandelt. "Ich glaube jedes Wort, das er geschrieben hat. Ich weiß, dass er nicht lügt."
Mit der schonungslosen Beschreibung seiner Kindheit, geprägt von Misshandlungen, Demütigungen, brutaler Gewalt, Schrecken, bigotten Pfarrern, verkappten Nazis, neurotisch-abhängigen Frauen, landet der Autor zahlreicher Reisebücher einen Bestseller. Und es ist, als habe Altmann alle zuvor geschriebenen Geschichten aus den abgelegensten Gegenden der Welt nur zum Warmschreiben für die Auseinandersetzung mit seiner Jugend in Altötting gebraucht. Als hätte er erst die Psyche anderer Außenseiter durchforsten müssen, um für seine eigene verpfuschte Kindheit Verständnis und Distanz bei der Betrachtung und Mut zum Niederschreiben aufzubringen.
Doch im Gegensatz zu den flüchtigen Begegnungen mit skurrilen und eigensinnigen Charakteren weltweit in seinen Reisegeschichten wird den LeserInnen hier eine runde, eine ganze Geschichte erzählt, es sind keine zufälligen Begegnungssplitter, die seine Erzählungen wie bunte Fauenfedern schmücken.
Sehr klar, sehr souverän, manchmal aggressiv, aber nie zynisch blickt Altmann zurück auf einen Vater, der als psychisches Wrack aus dem Krieg kommt und ihn, seinen jüngsten Sohn, als "despotischer Rosenkranzkönig" von Altötting mit Inbrunst prügelt, unterdrückt, entwertet; auf seine Mutter, die schwächelt und völlig überfordert ist vom Mann, vom Schwanz und vom Leben und seinen Zumutungen; auf die Schule voller autoritärer Lehrer und die heilige katholische Kirche mit ihren verklemmt-bösartigen Gottesmännern.
Mit dem nachhaltigen Selbstbild des Versagers, das sein Vater ihm schlagkräftig eingebläut hat, flüchtet der junge Altmann aus diesem brutalen Zustand, der sich Kindheit nennt, um sich als Taxifahrer, Schauspieler, Kellner, Dressmann, Aufschneider irgendwo und irgendwie neu zu erfinden. Ein mühsamer Weg an den Abgründen der eigenen Seele. Altmann giert nach dem starken Gefühl, dem "andauernden Fick im Kopf." "Ich gestehe, hinter aller Notwendigkeit lauert die Sucht nach dem Stachel, das Spiel mit der Angst. Immer wieder diese innig gesuchten Momente eines rasenden Herzschlags. Diese Lust auf Abwege, Angst und dann das Gefühl, mit allen Sinnen am Leben zu sein."
Er sucht das Abartige, das Abgefahrene, Widerständige, den überraschenden Moment. Er hasst das Laue, das Angepasste, das Sichere, das Alltägliche, das Nahe: "Die Aussicht auf Liebe machte mich impotent, kraftlos, kaputt." Schließlich landet Altmann beim Schreiben. Seine Rettung: "Hätte ich eine liebliche Kindheit verbracht, ich hätte nie zu schreiben begonnen, nie die Welt umrundet", sagt er. Und wahrscheinlich hätte er sich auch nie in den Randzonen der Gesellschaften, in Puffs, dunklen Kneipen, öden Orten herumgetrieben.
Mit der Erzählung seiner Scheißjugend in Altötting beschreibt Altmann gnadenlos und wortstark den kastrierenden Mief der fünfziger Jahre in deutschen Kleinstädten, den wabernden Faschismus in den Köpfen. Das mag den Erfolg des Buchs ausmachen. "Viele Leute schreiben mir nun ihre eigene triste Erfahrung", sagt Altmann. Er enttabuisiert die persönlich Schmach, das lebenslange Minderwertigkeitsgefühl. Das ist mutig, selbstentblößend, befreiend. Er erschreibt sich damit die Läuterung in Sachen Selbstwert nach vielen Therapien, nach Urschrei und Zen-Meditation.
"Erst die öffentliche Wertschätzung […] macht das Schreiben zu einer Wunderwaffe. Die es mit jedem Seelendesaster aufnimmt", schreibt Altmann im Nachwort seines Buchs. Dieses Nachwort stimmt versöhnlich. Der Rumtreiber, Nonkonformist, Abenteuerer, Anmacher, Beau, Egomane scheint erwachsen geworden zu sein.
"Sind Sie glücklich", fragt Andreas Altmann aufdringlich-naiv jeden, mit dem er erstmals ins Gespräch kommt. Er selbst ist nun mit seiner "Scheißjugend" zum Glückskind geworden.
Andreas Altmann: "Das Scheißleben meines Vater, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend". Piper Verlag 2011, 254 Seiten, 19,99 Euro
Interview zur Buchbesprechung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!