Alternatives Wohnen für Senioren: Der Lieblingssessel darf mit
Wohngemeinschaften als Wachstumsmarkt: Immer mehr Senioren entscheiden sich gegen ein Altenheim und für eine WG. Ein Besuch im "Haus Emma".
Im Fenster der Eingangstür hängt ein handgeschriebenes Schild: "Lieber Gast, bitte 2x klingeln! Bitte etwas warten, wir sind nicht mehr so schnell." Die Zeichnung einer lächelnden Schnecke vervollständigt das Bild. Im Flur parkt ein Treppenlift am Aufgang zur oberen Etage, an der Garderobe steht ein Rollstuhl.
Kaum in das Wohnzimmer eingetreten, ruft jemand: "Achtung, Pieti ist draußen! Ist die Tür zu?" Bevor die Frage ausgesprochen ist, flattert ein kleiner, gelber Kanarienvogel quer durch den Raum. Nach ein paar Runden durch das Wohnzimmer lässt er sich auf dem Arm eines grauhaarigen Mannes nieder, der es sich in einem Sessel vor dem Fenster bequem gemacht hat. Willkommen im "Haus Emma".
In Pottum im Westerwald leben sieben Senioren im Alter zwischen 79 und 98 Jahren und der Kanarienvogel Pieti in einer Wohngemeinschaft zusammen. Heike und Friedhelm Theis haben das Projekt ins Leben gerufen und ließen dafür im Jahr 2005 das barrierefreie Blockhaus bauen. Heike Theis ist eigentlich gelernte Anwaltsgehilfin, schulte dann aber zur Altenpflegerin um. Inzwischen ist sie mehr als 25 Jahre in der Altenhilfe tätig und seit 2002 Geschäftsführerin des "Ambulanten Pflegeteam Vital". "Es ist wichtig, dass die Senioren so eigenständig wie möglich bleiben. Dort, wo Unterstützung nötig ist, wird sie gegeben, ansonsten gestalten die Mieter ihren Alltag selbst", sagt Theis über das Wohnprojekt. "Wir sind Betreuer mit Händen in den Taschen", fasst sie dieses Prinzip zusammen.
Mehrere Haushaltsassistenten helfen beim Kochen und Einkaufen, für die Pflege und die medizinische Betreuung gibt es zusätzliches Personal, das bei Bedarf ins Haus kommt. Regelmäßig werden Tanzabende, Bastelstunden und Ausflüge organisiert, außerdem steht für Besorgungen und Termine ein großräumiger Transporter, das kostenlose WG-Shuttle, zur Verfügung. Nachts sind die Senioren allein im Haus, können aber über ein Notrufgerät jederzeit Hilfe bei der nahegelegenen Pflegestation holen.
Wohngemeinschaft als Familie
Auch wenn jedes WG-Mitglied ein eigenes Zimmer hat, halten sich die Senioren meistens im großen Wohn- und Essbereich auf. Dort stehen ein dunkelblaues Sofa und mehrere Sessel, von denen keiner dem anderen gleicht. "Jeder kann seinen Lieblingssessel von zuhause mitbringen", erklärt Irmtraud Wiesner* die bunte Mischung. Die ältere Dame mit dem dunklen, gelockten Haar sitzt mit drei anderen Mitbewohnern am Esstisch.
"Ich bin seit zehn Wochen hier", sagt die 79-Jährige. "Manchmal habe ich zwar Heimweh, aber in meinem alten Haus komme ich alleine nicht zurecht." Lange Zeit hat sie ihren Mann gepflegt. Als er starb, lebte Wiesner auf dem Hof der Tochter, bevor sie sich nach einem zehntägigen Probewohnen entschied, in die Senioren-WG zu ziehen. Erna Heilmann, die mit am Tisch sitzt, winkt ab und verzieht ein wenig das Gesicht: "Die Geschichte haben wir schon tausend Mal gehört." Dann sagt sie: "Manchmal gibt es zwischen uns auch Ärger, aber dann vertragen wird uns wieder. Wir sind hier wie eine Familie."
In der Altenversorgung gewinnen alternative Wohnprojekte wie Hausgemeinschaften oder Senioren-WGs immer mehr an Bedeutung. Das bestätigt auch Rainer Fretschner, Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Kiel: "Bislang machen innovative Wohnformen auf dem Wohnungsmarkt maximal fünf Prozent aus, aber diese Art des Wohnens wird die Zukunft prägen. Das ist ein richtiger Wachstumsmarkt." Das Leben im Heim sei für die ältere Generation unattraktiv geworden. "Früher hat man zehn Jahre im Altenheim gelebt, dort hat man seinen Lebensabend verbracht", erläutert Fretschner. Heute ginge man in der Regel nicht dorthin, um zu leben, sondern um die Sterbephase zu verbringen.
Irmtraud Wiesner hat bereits Erfahrungen mit stationärem Wohnen im Heim gemacht. "Mit meinem Mann war ich eine Zeit lang im Altersheim, da ging es drunter und drüber. Aber hier ist es schön", meint sie. Erna Heilmann nickt zustimmend und ergänzt: "Ich möchte hier bleiben bis ich rausgetragen werde." Außerdem sei das Leben in der Wohngemeinschaft sehr günstig. "Ich darf gar nicht erzählen, wie wenig ich zahle", sagt Erna Heilmann. Geschäftsführerin Theis ist da nicht so zurückhaltend: "Ein Platz im Altenheim kostet in unserer Region je nach Pflegestufe zwischen 1800 und 3300 Euro im Monat, im Haus Emma liegt der Betrag für Miete und Grundversorgung weit unter 1000 Euro. Selbst bei einer eintretenden Pflegebedürftigkeit und zusätzlicher ambulanter Betreuung sind die Kosten viel geringer als im Heim."
Am Tisch beginnt eine Diskussion darüber, wer heute für das Schälen der Kartoffeln verantwortlich ist. Wiesner hat erst einen Tag zuvor bei der Zubereitung des Mittagessens geholfen, Heilmann hält sich auch zurück: "Ich komme immer morgens früh rauf und decke den Frühstückstisch." Letztlich übernimmt Klara Menning, die in einem Rollstuhl am Kopfende des Tisches sitzt, die Aufgabe. Geübt greift die blinde Frau nach den Kartoffeln und beginnt zu schälen. In der offenen Küche bereiten die Hausassistenten derweil Sauerkraut und Rippchen vor. Ein angenehmer Essensgeruch zieht durch die Luft und langsam finden sich alle Senioren am Tisch ein. Im Wohnzimmer dreht Pieti wieder seine Runden.
*Namen der Bewohner geändert
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