: „Alte nehmen wir nicht!“
Ohne Schmiergeld geht in Rußlands Krankenhäusern kaum noch etwas/ Mickrige Löhne, Entlassungen und überarbeitete Ärztinnen ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
„Falls sie dich wirklich umsonst behandelt haben, dann war die ganze Behandlung umsonst!“ Mit diesem Bonmot charakterisieren die Russen gern die Effektivität des traditionellen sowjetischen Gesundheitssystems, das den Anspruch erhob, alle BürgerInnen gleich und unentgeltlich zu kurieren.
Weil er „nicht produktiv“ ist, gehörte der Beruf des Mediziners im Arbeiter- und Bauernstaat zu den sozial wenig angesehenen und wird deshalb noch heute vorwiegend von Frauen ausgeübt. Die meisten von ihnen verdienen zuwenig zum Leben und zuviel zum Sterben. Der Sankt Petersburger Standesgenosse Dr. A. Sergejew gab in der Komsomolskaja Prawda einen typischen Dialog im Behandlungszimmer wieder: „Wollen Sie auf die sowjetische Tour behandelt werden oder wie es sich gehört?“ Und Dr. Sergejew präzisierte: „Wie es sich gehört – das bedeutet 3.000 Rubel Schmiergeld im voraus auf die Hand, und das ist nur der Anfang.“
Aber auch für die Gnade, überhaupt behandelt zu werden, muß man zahlen, vor allem wenn man alt ist. Vor einem Jahr lag die Mutter meiner Freundin Schanna nach einem Gehirnschlag im Sterben. Nachdem ich mich viele Tage um Hilfe bemüht hatte, fuhr ich schließlich mit dem sympatischen jungen Sanitäter Andrej zum Ort des Sterbens. Ich hoffte, daß er als Angestellter der berühmten „Sklifosowski-Klinik für Erste Hilfe“ die alte Dame dorthin mitnehmen könnte. Seine Antwort: „Da kann ich nichts machen, alte Menschen nehmen wir nicht, schon gar nicht Landsleute.“
Gott sei Dank hielt er auch Trost parat: „Hier stirbt sie würdiger. Bei uns waten die Ärzte in Blut und Kot, um wenigstens das Leben von Leuten in den besten Jahren zu retten. Und zum Verbinden bleibt uns oft nichts anderes als die Kleidung der Eingelieferten.“
Selbstverständlich sind nicht alle Ärzte, Sanitäter und Krankenschwestern in Rußland korrupt. Und vom professionellen Standpunkt aus vollbringen viele von ihnen olympiareife Leistungen. Die junge Irina ist Krankenschwester aus „Berufung“, wie sie es selbst nennt. Ihr ganzer Schwung geht aber regelmäßig während der 48-Stunden-Schichten flöten, zu denen sie gezwungen ist. „Im Grunde genommen arbeite ich während dieser Schichten für vier Leute. Ich bin allein auf einer Station, für die früher ein diensthabender Arzt, eine Schwester, ein Sanitäter und eine Schwesternhelferin vorgesehen waren. Jetzt aber verlangt man von den Krankenhäusern, daß sie sich rentieren. Unseren mickrigen Lohn von 6.000 Rubeln – also weniger als die staatlich vorgesehene Mindestpension – können wir nur bekommen, weil wir die Gehälter für die eingesparten Stellen noch dazu erhalten. Aber natürlich können wir nicht die entsprechende vollwertige Arbeit leisten.“
Als vor kurzem eine gelähmte Patientin eingeliefert wurde, stellte das Irina und ihre KollegInnen vor große Probleme. „Unser Gewissen sagte uns, daß wir uns mit ihr täglich intensiv beschäftigen müßten, damit es nicht zu durchgelegenen Stellen kommt. Jede von uns auf der Station ist aber mit 50 Patienten 48 Stunden lang mehr oder weniger allein.“ Und leise fügt sie hinzu: „Bei uns sterben mehr Menschen an den Folgen der durchgelegenen Stellen als an den Leiden, deretwegen sie eingeliefert wurden.“
Irina sehnt sich nach der Zeit, als sie in einem Militärhospital arbeitete: „Hier haben wir außer ein wenig Penicillin praktisch nichts, womit wir arbeiten können, sogar einfachste Mittel fehlen. Oft bleibt uns nur der Griff zur Nikotinsäure. Dort aber gab es zehn verschiedene Antibiotika mit einem sehr differenzierten Wirkungsspektrum, und alle modernen Schmerzmittel waren verfügbar.“
Im Januar hat der Oberste Sowjet ein allgemeines Krankenversicherungsgesetz verabschiedet. Wie soll das aber finanziert werden? Für die Antwort auf diese Frage haben sich die Abgeordneten ein weiteres halbes Jahr vorbehalten. Die gigantische Verwaltungsbehörde aller staatlichen Krankenhäuser, das „Ministerium für Gesundheitswesen“, wird dadurch nicht berührt. Weder die Presse noch die Bürger versetzt deshalb die Idee einer Krankenkasse in Jubel. Der Tenor lautet: „Dann werden wir statt eines korrupten Molochs gleich zwei haben!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen