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Altamira, Bayreuth und MGM

■ Eine Rezension von Hans Blumenbergs neuestem Buch „Höhlenausgänge“

Norbert Bolz

Wenn Menschen ernst machen, entlarven und die nackte Wahrheit fordern, wiederholen sie im Geist einen Auszug aus dem bergenden Dunkel - wie bei der Geburt. Um eine Welt zu haben, muß ich die Höhle verlassen. Und der Begriff Geburtstrauma besagt ja, daß alle Geschichte mit schmerzhaften Trennungen beginnt. Was wir also Wirklichkeit nennen, ist bestimmt von Trennungstraumata. Mit diesen Überlegungen beginnt Hans Blumenbergs neues Buch Höhlenausgänge. Und damit ist er schon bei seiner Sache

-nämlich der Philosophie. Denn die berühmteste Geschichte, in der sich Philosophie über sich selbst ins Bild gesetzt hat, ist ja das Platonische Höhlengleichnis. Es erzählt von Menschen, die, in einer Höhle gefesselt, wie in einem primitiven Kino immer nur Schattenbilder des Wirklichen sehen und den, der ihnen von der Sonne der Wahrheit berichtet, mit dem Tode bedrohen. Denn solange das Höhlenfeuer durch Schattenwurf bewegliche Bilder erzeugt, ist nicht zu erkennen, daß sie bloß Abbilder sind.

Hier entsteht das Dilemma der Aufklärung: Man kann in einer Höhle nicht klarmachen, was eine Höhle ist. Und wer immer nur in der Höhle war, kann von sich aus keine Unzufriedenheit mit den Schatten empfinden; er wird sich gegen jeden Versuch einer Entwertung seiner Bilderwelt wehren. Der bloße Begriff von Freiheit kann die Unfreien nicht davon überzeugen, daß ihnen etwas fehlt. Nur schon Befreite können wissen, was der Begriff bedeutet. Das ist die Grundstruktur von Platons Gleichnis - es hat eine Vielzahl von Interpretationen gefunden.

Doch Blumenberg erspart uns die Langeweile einer wirkungsgeschichtlichen Betrachtung. Statt dessen arbeitet er Lesarten heraus, die am Platonischen Höhlengleichnis Umbesetzungen und Gegenbesetzungen vornehmen. Das heißt: Es gibt Fälle und Unfälle der Rezeption, wo zwar das Szenarium der Geschichte Platons erhalten bleibt, aber die Perspektive verändert, das Vorzeichen umgekehrt wird - der Ausgang wird zum Eingang, das Höhlendunkel zum Geheimnis, der Weg hinab zur eigentlichen Mutprobe.

Diese freien Variationen gelingen offenbar um so überzeugender, je mehr sie sich ungenauen Erinnerungen an Gelesenes und Gelerntes verdanken. Philologische Texttreue ist kein Kriterium für gelungene Umbesetzungen. Im Gegenteil scheinen Arroganz und Ignoranz geradezu Bedingungen einer fruchtbaren Lektüre. Blumenberg radikalisiert also die Formel vom produktiven Mißverständnis, so daß man sagen muß: Nur Mißverständnisse sind produktiv. Philologische Schwäche schlägt um in metaphorologische Stärke. Je fragmentarischer eine Überlieferung, desto besser für die Umbesetzung. Blumenberg resümiert: „Es geht nicht um Hermeneutik eines Textes, nur um die Auswertung einer einmal durch diesen Text induzierten Rahmenvorstellung, die gerade wegen der Ungenauigkeit der Vorgabe mit eigenen Zutaten besetzt werden kann.“ Bildschemata wie Platons Höhlengleichnis nennt Blumenberg „absolute Metaphern„; sie treten an die Stelle eines Nichtwissens, das heißt sie schließen die Lücke im Schirm unserer Vernunft. Damit sind sie für den Philosophen unentbehrlich.

Dieser tritt nämlich überall dort auf den Plan, wo die Wissenschaften den Menschen ungetröstet am Nichtverstehen leiden lassen. Philosophie läßt verstehen, ohne zu beweisen, aber auch ohne widerlegbar zu sein. Sie ist offenbar ein Luxus, eine Art von Vernunft, die nicht der Selbsterhaltung der Gattung nützlich sein muß. Der Geist der Intellektuellen ist eine Höhlengeburt. Jene Schwachen, die in der Frühzeit des Menschen die schützende Höhle nicht zur Jagd verlassen mußten, haben dem Realismus der Außenwelt eine neue Welt von Wunsch, Möglichkeiten und Phantasie entgegengesetzt. Der Geist der Utopie wächst in der Höhle, nicht im Ausgang aus ihr. Dieses Szenarium steht deutlich erkennbar am Gegenpol von Platons Höhlengleichnis. Wird Philosophie in der Höhle oder im Auszug aus ihr geboren? Beide Extreme werden von der Kette jener Gegen- und Umbesetzungen verbunden, die Blumenberg in großartiger Wissenschaftsprosa Revue passieren läßt. So hat der Aufklärer Voltaire die Schulphilosophie als Wirklichkeitsverlust verspottet: Der weltferne Denker lebe als Gefangener in einer Höhle, an deren Wänden die Schattenbilder der Metaphysik vorüberziehen. Blumenberg zieht das Fazit: „Die Philosophie der Neuzeit ist auch dort, wo sie von Triumphen des menschlichen Geistes zu handeln scheint, weithin eine Beschreibung von Gefangenschaften.“ Das liegt daran, daß Theorien selbst den Charakter von Gehäusen annehmen, die dem Bewußtsein Schutz bieten. Und gerade die Neuzeit forscht nicht mehr unter freiem Himmel, sondern kehrt sich im Namen der Methode von den Sachen ab.

Davon handelt, im Licht der Umbesetzungen betrachtet, schon das Platonische Höhlengleichnis. Denn die Gefangenen der Höhle haben ja ein Wissen: Sie beschreiben die Verhältnisse der Schatten, die Reihenfolge ihres Erscheinens und sagen den jeweils nächsten Schattenauftritt voraus - ein Wettbewerb des Wissens, der keine Langeweile aufkommen läßt. Die Neuzeit sucht wahre Theorie nicht am Sonnenlicht des Höhlenausgangs, sondern in der Höhle selbst. Sie verzichtet auf das wahrhaft Seiende und begnügt sich mit der Exaktheit der Prognosen. Platons Schatten an der Wand hat die Neuzeit als ihre Erfahrungswirklichkeit akzeptiert. Und auch wem die Neuzeit schon Vergangenheit ist, dem bietet Blumenberg eine Lesart des Höhlengleichnisses, in der sich noch die postmodernste Aktualität spiegeln kann. Man muß nur annehmen, daß die Regisseure jener Schattenprozession keine Betrüger gefesselter Höhleninsassen, sondern Funktionäre eines Publikums sind, dem sie die Wirklichkeit ästhetisch ersetzen sollen. Wenn es dabei zu einem feedback zwischen den Sophisten am Regiepult und den Höhleninsassen vor dem Schattenbildschirm kommt, kann von Betrug ohnehin nicht mehr die Rede sein - allenfalls von Sucht. Schon Platons Gefangene waren eigentlich von den Lichtspielen gefesselt.

Nun bleibt nur noch ein Schritt in der Verschärfung dieser Metapher zu tun: Man muß die Höhleninsassen selbst zu Erzeugern ihrer Schatten machen. Das leistet der Begriff der Projektion. Die Menschen versetzen innere Bedrängnisse in äußere Bilder. Blumenberg bringt das auf die schöne Formel: „Nicht mehr die Götter machen die Träume, sondern die Träume die Götter.“ In dieser Lesart wird die platonische Höhle zum Kino. Welche Bedeutung technische Höhlen wie das Kino für die Moderne haben, wird erst klar, wenn man an die Bilanz der Aufklärung denkt: die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft.

Wir haben gelernt, uns mit der Zufälligkeit der Welt abzufinden, die den Gedanken an ihre Rechtfertigung gar nicht mehr aufkommen läßt. Im Raum der wissenschaftlichen Objektivität fällt das Subjekt einfach aus. Gegen seine Bedeutungslosigkeit verteidigt es sich seither, indem es wieder Höhlen bewohnt; dafür ist das Kino nur ein Beispiel. Im ästhetischen Widerstand gegen die entzauberte Welt verschließt der Mensch die Höhlenausgänge und überläßt sich ganz den Sensationen des Innenraums. Das ist die extremste Gegenbesetzung des Höhlengleichnisses - man könnte auch sagen: die Entplatonisierung der Platonischen Höhle; sie wird Gesamtkunstwerk.

In den medientechnischen Höhlen regiert seit Wagner und Nietzsche die ästhetisch freie Lüge, die den Genuß an Bildern und Tönen von der Wahrheit abkoppelt. All das schildert Blumenberg mit der Sympathie dessen, der den Trost der Philosophie nicht unterm Sonnenlicht der nackten Wahrheit sucht, sondern in den farbigen Schatten der Höhlen von Altamira, Bayreuth und MGM.

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