Alt werden: Eine abschreckende Zukunftsvision
Opa spricht nicht, Oma hört nichts mehr. Beim Anblick der Großeltern kommen Zweifel daran auf, dass das Lebensende lebenswert ist.
Warum will man heutzutage noch alt werden? Damit will ich nicht das Klischee von „live fast, die young“ wiederbeleben, aber jenseits der 70 sieht es doch oft recht traurig aus. Vor wenigen Jahren spielte mein Opa noch Tennis und kaute seinem Umfeld sämtliche Ohren ab – jetzt wird er von einer Heimapotheke an Tabletten und Tröpfchen am „Leben“ gehalten. Immobil und unkommunikativ. Umsorgt von einer Haushaltshilfe, seiner Tochter, und seiner Frau.
Letztere, meine Oma, ist aber selbst schon 82 Jahre alt und damit noch eine Dekade jünger als mein Großvater. Sie pendelt von einem Arzt zum nächsten. Die Hörgeräteakustikerin hat ihr nun Hörtrainingsaufgaben mitgegeben, die ihr aus ihrer der Nahezutaubheit geschuldeten Isolation helfen sollten.
Der eine kann nicht sprechen, die andere nicht hören – aber an letzterem soll ja die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher etwas ändern. „La-ke-fi-sa-do“, tönt es. Oma soll genaues Zuhören trainieren, anhand von ausgedachten Silbenkombinationen aber auch anhand von Märchen und akustischen Kreuzworträtseln. Oma guckt hilflos. Opa röchelt vor sich hin.
Eigentlich sollte meine Großmutter allein in der Lage sein, ihre Hausaufgaben zu erledigen, doch es scheitert schon am Einschalten des CD-Players. Also hat meine Mutter eine weitere Aufgabe, zusätzlich zu Arzt- und Apothekenbesuchen, dem Kochen und Rollstuhlausfahrten mit ihrem Vater: Sie hört sich Märchen an und erklärt Oma das Prinzip von Kreuzworträtseln.
Allein ist das nicht zu schaffen
Wenn ich aus Hamburg zu Besuch komme in das niedersächsische 400-Seelen-Dorf, wo meine Großeltern schon immer wohnen, helfe ich natürlich aus. Allerdings komme ich nur einmal im Monat, denn ich habe ja auch ein Leben, eine Miete zu bezahlen und meine mentale Gesundheit zu bewahren. Meine aktuell größte Rolle innerhalb der Familie ist die der Zuhörerin. Wenn meine Mutter, in ihrem neuen, wahnsinnigen Alltag zu versinken droht, ruft sie mich an und erzählt: Wer versteckt sich wie wir einst zur Schulzeit vor den Hausaufgaben oder wer ist schon wieder ausgebüxt ohne Bescheid zu sagen wohin.
Antwort: Oma tut so, als höre sie einen nicht und geht in einen anderen Raum, wenn sie sich ihren Hörhausaufgaben widmen soll und Opa hat plötzliche Energieschübe, und taucht in seiner alten Mühle, die er bis vor 20 Jahren betrieben hat, und bei den nicht mehr ganz so neuen Bewohnern auf.
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Während dieser langen Telefonate wird mir immer wieder bewusst: Alleine werde ich es in 30 oder 40 Jahren nicht schaffen, mich um meine Mutter zu kümmern. Meine Großeltern haben vier Kinder und das Geld für Hilfe von außen. Doch wie sollen wir, die wir keine oder wenige Kinder und kein gute Rente in Aussicht haben, unsere Epilogedurchstehen? Hat die Medizin versagt, dass sie uns zu langen und mühseligen Lebensabenden verdammt?
Wenn man den Hausherren fragt, ob er noch möchte, konzentriert er sich ganz stark, bringt all seine Energie auf und krächzt ein überzeugtes „ja“. Warum ist uns allen ein Rätsel. Es könnten die wenigen guten Momente sein, wie etwa als wir im Herbst nach dem Trubel seines 92. Geburtstages auf der Terrasse an einem Feuer saßen und ich einen solchen Schluckauf bekam, dass er mich glücklich auslachte und schlussendlich mit einem bisschen Wasser aus seinem Schmerztröpfchenschnapsglas heilte. Wieso das funktioniert hat, wird er wohl nie beantworten können.
Den eigenen Vater weinen sehen
Ich frage mich: Wird es noch schlimmer? Die Antwort lautet: Ja. Mein Opa spricht immer weniger, Worte und Laute verschwinden aus seinem Vokabular. Seine Laufwege werden kürzer und häufiger durch Rollstuhlfahrten ersetzt. Oma guckt hilflos. Opa röchelt vor sich hin.
Alle Treppenlifte, Hörgerate und Rollstühle der Welt ändern nichts daran, dass es den beiden, so wie den 4,5 Millionen über 80jährigen in Deutschland nie wieder richtig „gut“ gehen wird.
Meine Mutter hat ihren Vater zum ersten Mal weinen sehen, als vor ein paar Monaten seine Frau kollabiert war und er ihr nicht helfen konnte. Wer im rechten Winkel am Rollator hängt, kann niemandem aufhelfen. Und selbst, wenn er es geschafft hätte, jemanden anzurufen, wären seine Hilferufe nicht zwingend als solche zu verstehen gewesen.
Aber ein Hoch auf die Tabletten, ohne die er vielleicht nicht mehr da wäre. Altern ist eine Epidemie, die dafür sorgt, dass sich gestandene Menschen zu Kindern zurück entwickeln. Sie müssen jederzeit umsorgt werden, können sich nicht richtig artikulieren, müssen gezwungen werden, ihre Teller zu leeren und machen Mittagsschläfchen.
Nicht auf die Pflege der Eltern vorbereitet
Die Evolution hat uns darauf vorbereitet, uns um unsere Nachkommen zu kümmern. Aber sie hat uns nicht darauf vorbereitet, diese Jahre der Pflege später zurückzugeben.
Ich bin froh, dass ich noch Großeltern habe, das ist keine Selbstverständlichkeit. Aber manchmal ist es schwer, sie nicht nur mehr als eine abschreckende Zukunftsvisionen zu sehen.
Bis dann ab und an ein Sonnenstrahl in die dörfliche Tristesse fällt: Letztes Jahr: Das Kartenspiel mit dem Familienoberhaupt, als ihm die Schadenfreude aus dem Gesicht sprang, weil der den nächsten Spieler zur Aufnahme von vier Karten zwang. Oder beim gemeinsamen Ausflug zum Volksfest Hamburger Dom. Meine Oma mit leuchtenden Augen in der Riesenradgondel. „Schön wie Weihnachten ist das“, sagte sie immer wieder. Solche Momente muss man sich in Erinnerung rufen, wenn es gerade wieder so aussieht, als würde es nur noch bergab gehen.
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