Alt werden im Gefängnis: Draußen ist fremd geworden
Jürgen Kötter wollte eine Bank überfallen. Er wurde erwischt und kam ins Gefängnis. Mal wieder. Aber diesmal als kranker Mann. Ein Besuch auf der Lebensälterenstation in der JVA.
Ein eigener kleiner Schlüssel, davon träumt Jürgen Kötter immer wieder. Mit dem könnte er endlich abschließen und bestimmen, wer hineinkommt. In seine Zelle. Doch am Morgen stehen sie wieder unangekündigt vor seinem Bett. Haben aufgeschlossen und laden tausende Schrauben ab. Die soll Kötter in kleine Tütchen sortieren. In seiner Zelle.
Doch erst einmal braucht er etwas anderes. Kötter dreht die alte Musikanlage auf und lässt "Highway to hell" wummern. 1979 wurde AC/DC damit berühmt. Kötter erinnert sich gern an dieses Jahr. Mitte zwanzig war er, saß hinter dem Lenkrad seines Porsche, den er sich von seiner Beute gekauft hatte. Gemeinsam mit dem Sänger Bon Scott im Radio sang er "Nobodys gonna slow me down".
Die Jahre danach waren weniger schön, weil beide ausgebremst wurden. Sänger Scott starb 1980 im Auto, im Jahr darauf verlor Kötter den Porsche, weil er das erste Mal im Gefängnis landete. Seitdem muss er immer wieder hinter Gitter und verpasst sein Leben.
Auf den Rundgängen im Hof, sagt Kötter, lauschen die jungen Häftlinge noch seinen Geschichten. Hier, bei den Alten, ist er mit seinen Gedanken oft allein. Er fragt sich, was ihm noch vom Leben bleibt: "Dabei hatte ich vorher nie an das Sterben im Gefängnis gedacht."
Seit seiner letzten Verhaftung sitzt er auf der Lebensälterenstation der JVA Detmold. Eine Sonderabteilung für Leben, das im Gefängnis alt wurde und noch älter wird. Hier gibt es weder feindselige junge Häftlinge noch Hierarchiekämpfe. Gebohnertes Laminat glänzt am Boden. Kein einziges Staubkorn, aber es riecht muffig. Vielleicht riechen alte Häftlinge so, vielleicht riecht Metall so, wenn sich fünfzig Jahre lang Hände daran klammern.
Eine lange Reihe von vergitterten Fenstern lässt zwar Licht hinein, doch Milchglas versperrt die Welt draußen. Unter jedem Fenster stehen Blumentöpfe. Ihr Abstand ist zentimetergenau vermessen, trotzdem verströmen sie eine Vorstellung vom unerreichbaren Grün. Auf den Gängen ist es gerade still. Die Zelltüren mit den Doppelschlössern sind verriegelt. Hinter 22 Türen sitzen 22 ältere Männer. Jeder ist gerade mit sich und seinem Altern allein.
Diese und andere Geschichten lesen Sie neben vielen anderen spannenden Texten in der aktuellen sonntaz.
In seiner Zelle rieselt Kötter der Tabak durch die dünnen Finger, während er seine Tagesration dreht. Alles an ihm ist dünn und ausgezehrt. Er hatte bereits eine Herz-OP. Die Schultern hängen, tiefe Furchen laufen über seine Stirn, das Gesicht wirkt eingefallen, und die Augenhöhlen schimmern rot und müde - aber die Augen, mit denen kann er andere in seinen Bann ziehen. Er hat einen stechenden Blick. "Ich bin noch ein Ganove der alten Schule." Kötter klingt stolz und blüht auf, während er von früher erzählt.
Wer mit ihm redet, der merkt, dass Kötter gern in der Vergangenheit lebt. Dort gibt es noch seine Jungs, mit denen er im Dortmunder Norden auf den Straßen groß wurde. "Alle sind sie krumm geworden." Hehler, Luden, Rausschmeißer, Eintreiber. Und er war einer von ihnen.
Kötter, der Räuber. Er reibt mit dem Daumen über die Handinnenfläche. Das taten damals auch die Jungs, wenn sie dicke Bündel mit Gerolltem hielten: "Darauf standen die Frauen, und das waren keine Otto Normalmäuschen, für die du den Liebeskasper spielen musst."
Die Jungs, das Geld, die Frauen, die Ganovenehre und der Knast, für Kötter gehörte alles zusammen: "Wir sagten nicht: ,Ich bin jetzt kriminell.' Wir merkten nur, wie leicht es sein kann." Er und die Jungs, sie kannten sich drinnen wie draußen. Jede Strafe saß er bis zum Ende ab. Wartete auf den Tag, an dem die Tür nach draußen wieder aufgeht. "Die Zeit floss dabei quälend langsam."
"Wo sind eigentlich die Jungs hin"
Doch dann, je länger Kötter zwischen Bielefeld, Verl und Detmold hinter Gittern sitzt, desto stärker verändert sich die Welt, sagt Kötter. Nach bald 27 Jahren in Haft fühlt er sich, als ob er aus der Zeit gefallen wäre. Der Einzige, der übrig blieb. "Wo sind eigentlich die Jungs hin? Für die hat man doch irgendwo einen eigenen Knast gebaut, und mich haben die hier vergessen." Auf der Lebensälterenstation ist er nur noch der Jüngste, 58 jetzt, unter den ganz Alten. "Hier wurde dann mein ganzes Vollzugsleben auf den Kopf gestellt."
Die Zellentür öffnet sich, und ein Vollzugsbeamter prüft, ob alles noch seine Rechtmäßigkeit hat: Kötter, die Zelle, der Reporter. Dann bittet er Kötter um eine Zigarette. Beide rauchen. Wieder allein, nennt Kötter die Beamten auch heute noch "die Grünen", wegen der Uniform.
Aber es ist nicht mehr so wie früher. Der Grüne ist nicht mehr der Gegner. "An diesen Kuschelvollzug habe ich mich immer noch nicht gewöhnt. Früher hieß es: Wir gegen die. Da führte kein Weg zusammen. Bei so engem Kontakt hätten mich die Jungs früher schnell Verräter genannt." Aber jetzt ist er nur einer der Übriggebliebenen. Ein kranker. Deshalb hier.
Was ein Grüner jetzt genau ist, das weiß Kötter nicht: "Immer noch Beamter, zuerst aber ein Mensch. Mit Alten musst du ja anders umgehen." Für die will die Station laut Prospekt Rückzugsraum sein, man will die Alten beschäftigen, damit sie nicht den Lebensmut verlieren.
Aber der Prospekt beschreibt eine Sache nur ganz versteckt: das Sterben. Dort steht nicht, dass hier auch der Körper langsam zum Gefängnis wird. Kötter musste sich erst an den Wagen mit den Medikamenten gewöhnen, der durch die Station rollt: "Wenn der Pillenmann kommt, geht es hier zu wie in einer Apotheke." Einmal in der Woche werden die Alten überprüft. Ein Chefarzt liest ihre Akten, hält Visite.
Dann fährt der zurück in die JVA Hövelhof, die auf Pflegefälle spezialisiert ist, und kennt seine Kandidaten, die er bald mitnimmt: Wer nicht mehr vom Klo hoch kommt, es nicht mehr allein aus dem Bett schafft, wer durch Krebs, Diabetes oder Alzheimer verfällt, für den gibt es keinen Kochkurs oder Tischkicker mehr auf der Lebensälterenstation, der sortiert keine Schrauben, der baut keine Laternen, auf den wartet nur noch Hövelhof. Eine abgeschlossene Pflegestation, ein vergittertes Altersheim. Die Endstation.
"Das ist wie ein Wettlauf gegen die Zeit, und jeder will durchhalten. Noch einmal rauskommen, weil Sterben hinter Gittern ein Albtraum ist." Kötter blickt zum Fernseher. Er nennt ihn "mein Fenster nach draußen". Er schweigt jetzt und wirkt abwesend. So, als ob er einsam in einer Polarstation säße. Vielleicht denkt er gerade: Wer hier stirbt, tut es ganz für sich allein, weitab von allen Menschen, die ihm jemals etwas bedeutet haben.
Früher waren seine Wünsche teurer
Das Eisenbett quietscht, als er seine langen, dünnen Beine ausstreckt. Dann nimmt sich Kötter wieder eine Selbstgedrehte und spricht über Wünsche, die ihn noch antreiben: draußen sterben dürfen, ein Besuch in der Kneipe, mit der Freundin im Arm einschlafen. Und ganz wichtig: der eigene Schlüssel. "Mit dem schließe ich meine eigene Wohnung ab und bestimme, wer kommt und wer geht."
Früher waren seine Wünsche teurer. Kötter rechnete so: "Ich habe alles zusammengezählt, für das ich nicht erwischt wurde. Dann haben sich die Jahre hinter Gittern immer noch gelohnt." Doch ein Hubschrauber wirbelte seine Lebensrechnung durcheinander. "Flapflapflap."
Kötter flattert mit den Händen und lässt vor seinen Augen noch einmal den Hubschrauber durch die Zelle fliegen. 2007 war er noch nicht mal ein Jahr draußen und hat schon wieder eine Bank überfallen. Mit Pistole und Beute liegt er in einem Naturschutzgebiet bei Herford, unter einer Brücke. Hunde bellen, Polizisten rufen: "Kommen Sie raus!" Der über ihm kreisende Hubschrauber hat ihn mit seiner Wärmebildkamera gefunden.
Eigentlich wollte er sich das Geld ja ohne Pistole von der Bank holen, sagt Kötter. "Ich saß vor dem Sachbearbeiter in der NRW-Bank." Es ging um 10.000 Euro Kredit für einen Laster, eine Motorsäge und einen sicheren Lebensabend als Händler mit Kaminholz. Kötter erzählt, wie der Sachbearbeiter seinen Lebenslauf aufschlägt, große Augen bekommt und alles wieder zuklappt. In diesem Moment trifft Kötter eine Entscheidung mit Folgen: "Ich bin ohne Rente und arbeitslos. Der hat gerade mein Leben abgestempelt. Dann hole ich mir das Geld selber."
Mit Pistole in einer Sparkasse in Herford. Nur noch einmal, für den Kaminholzhandel. Das geht schon, findet er damals. Später fühlt sich Kötter wie ein Hase, der von Hubschrauber und Polizei gejagt wird. Er gibt auf, kriecht unter der Brücke hervor und sagt: "Banküberfall? Ich gehe hier nur spazieren."
Verhaftet wird er trotzdem, doch seine Beute glaubt Kötter sicher versteckt. Seine Lebensrechnung stimmt zu dem Zeitpunkt noch: "Das Geld ist sicher, was machen da ein paar Jahre Gefängnis mehr?" Am nächsten Morgen platzt der Traum. Die Beute liegt im Verhörraum auf dem Tisch, erschnüffelt von Hunden. "Verdammt, gerade draußen. Jetzt gehst du wieder für nichts rein." Er bekommt noch einmal acht Jahre, sitzt seitdem auf der Lebensälterenstation: "Hier musst du nicht mehr um deinen Platz kämpfen. Was bleibt, bist du selbst. Und du musst dich mit dir beschäftigen."
Zumindest sein Ende will Kötter nicht verpassen: "Ich möchte es selbst bestimmen, und es soll nicht hier drin sein." Draußen ist ihm aber auch alles fremd geworden, das hat er durch seinen Fernseher gesehen: "Ein gläserner Überwachungsstaat."
Im Gefängnis sei die Welt kleiner. Kötter will gern noch einmal nach Hawaii fliegen, doch aus einer ZDF-Doku weiß er, dass er mit seinen Vorstrafen nicht in die USA einreisen darf. "Die wissen ja jetzt alles über dich." Und er sah Menschenmengen in den Flughäfen, die ihm Angst machen. Wie soll er sich da zurecht finden? Schon beim letzten Mal in Freiheit ist er in Dortmund an einem einfachen Fahrkartenautomaten gescheitert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Autounfälle
Das Tötungsprivileg