: Als Europa sich ein Bild machte
Ringen um die kollektive Erinnerung. Die Ausstellung „Gewalt ausstellen“ im Deutschen Historischen Museum dokumentiert frühe Versuche, NS-Verbrechen in Ausstellungen in ganz Europa greifbar zu machen
Von Henriette Hufgard
Wie kann man Gewalt begreifbar machen? Trotz knapper Ressourcen organisierten unzählige Menschen direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs Ausstellungen, um das Erlebte zu dokumentieren, anzuklagen und zu erinnern. Sechs davon thematisiert „Gewalt ausstellen“ im Deutschen Historischen Museum. Kuratorin Agata Pietrasik möchte die Ausstellungen von damals nicht eins zu eins nachstellen, sondern sie aus heutiger Sicht einordnen, von ihnen lernen. Großflächige, bodentiefe Projektionen von Fotos verbinden die damaligen Präsentationsräume mit dem DHM zu einem hybriden Raum. Historische Exponate werden mit Kommentaren von Besuchenden und Zeitungsartikeln kombiniert und aufwendig in gesellschaftspolitische Zusammenhänge eingeordnet.
In London eröffnete „Horror-Camps“ (Lager des Schreckens) noch vor Kriegsende. Riesige Fotografien gerade befreiter KZs wurden zum überfordernden Augenzeugenbericht. Sie sind bis heute emblematisch für die Shoah. Auch das Video mit der ersten Rede einer Überlebenden wird gezeigt: Hinter sich verschwommen ein Massengrab, erhebt Hela Goldstein in Bergen-Belsen ihre Stimme und spricht.
Die zweite ausgewählte Ausstellung ist „Crimes hitleriéns“ (Hitlers Verbrechen). In Paris machte man mit einer monumentalen Karte die geografischen Ausmaße der NS-Besatzung sichtbar. Dioramen sollten sogenannte „Grenz-Objekte“, wie ein Verbrennungsofen oder ein zum Menschentransport genutzer Viehwaggon, die emotionale Identifikation mit den Opfern ermöglichen. Das Leid der französischen Mehrheitsgesellschaft rückte die eigene Kollaboration und die Vernichtung jüdischer Menschen in den Hintergrund. Dem begegneten Interventionen wie von David Diamant, die jüdisch-antifaschistischen Widerstand thematisierten.
Zwei Warschauer Ausstellungen stehen sich in der Mitte des abgedunkelten Raums gegenüber. Das stark beschädigten Nationalmuseum zeigte 1945 „Warszawa oskarża„ (Warschau klagt an). Es wurde vom Schutt befreit, um mit zerstörten Kulturobjekte aus den Trümmern der Stadt befüllt zu werden. Objekte wie zerschlitzte Bilder oder Fragmente von Statuen wurden zur Metapher für Zerstörung und Gewalt. Sie sollten zugleich den Blick gen Wiederaufbau und Weiterleben wenden.
Drei Jahre später, am fünften Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto, eröffnete „Martirologye un kamf / Martyrologia i walka“ (Martyrium und Kampf). Auch hier leisten Objekte Erinnerungsarbeit: Unter den Exponaten ist ein Kilim, ein Wandteppich, der 1942 von jüdischen Zwangsarbeiter:innen gefertigt wurde. Er zeigt vier Personen, die Stoffreste sortieren. Das Exponat selbst besteht, wie das Motiv andeutet, aus Kleidungsresten aus den Vernichtungslagern. Daneben ein Modell des Bunkers, von welchem aus der Aufstand geplant wurde.
1946 wurde in Liberec im heutigen Tschechien ein ganzes Haus zum Mahnmal: „Památník nacistického barbarství“ (Gedenkstätte der Nazi-Barbarei). Die Villa eines geflohenen jüdischen Ehepaars wurde vom Gauleiter der Nazis beschlagnahmt. Nach Kriegsende wurde sie von der nicht jüdischen Bevölkerung dem Leitsatz „Nezapomeneme“ (Wir werden nicht vergessen) gewidmet. Das Leid der jüdischen Bevölkerung und der Rom:nja wurde dabei jedoch vernachlässigt, obwohl sie ca. 75 Prozent der tschechischen Opfer ausmachten. Die Mehrheitsgesellschaft stand ihnen, wie an vielen Orten in Europa bis heute, auch nach dem Krieg feindselig gegenüber.
Den Abschluss der dichten Ausstellung über Ausstellungen bildet „Undzer veg in der frayheyt“ (Unser Weg in die Freiheit) in Bergen-Belsen. Nach der Befreiung des KZ konnten und wollten viele der überwiegend osteuropäisch-jüdischen Überlebenden nicht in ihre Heimatländer zurückkehren. Als Displaced Persons lebten über 11.000 Menschen in einer ehemaligen Wehrmachtskaserne. Sie organisierten 1947 die Ausstellung, die eine vorwiegend zionistische Perspektive zeigt: die leidvolle Vergangenheit wird durch einen hoffnungsvollen Blick auf eine mögliche Zukunft in Palästina ergänzt.
Die Zeit von 1945 bis 1948 ist außergewöhnlich: Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, der Kalte Krieg hat noch nicht begonnen. „Gewalt ausstellen“ zeigt in Ausschnitten das Leid eines ganzen Kontinents. Nicht nur die Bildkraft und der Erfindungsreichtum der Ausstellungen ist wegweisend für unser heutiges Erinnern – auch die Reaktionen der Besuchenden weist zum Teil erschütternde Kontinuitäten auf: Etwa, wenn sich 1946 ein deutscher Lehrer per Brief darüber beklagt, Schülerinnen mit den Schicksalen französischer Opfer konfrontieren zu müssen. Besonders Osteuropa widmet sich diese wichtige Ausstellung mit großer Genauigkeit und Einfühlung. Ein Erinnern, dem man in Deutschland oft viel zu wenig Bedeutung beimisst.
„Gewalt ausstellen: Erste Ausstellungen zur NS-Besatzung in Europa 1945–1948“. Deutsches Historisches Museum, bis 23. November 2025
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