: Allzuspäte Anerkennung
Kohls Votum zur polnischen Westgrenze ■ K O M M E N T A R
Kohl ist der Meister der Konstellationen; sie meistern ihn. Wenn er jetzt die Westgrenze Polens anerkennt, so zeigt das nicht eine neugewonnene Überzeugung, daß es etwa bei den Fragen der deutschen Einigung auch einige moralische Probleme gebe. Er weiß nur, und er sagt es, daß der Zeitplan der außenpolitischen Absicherungen des deutschen Einheitsprozesses diesen Schritt jetzt erfordert. Was schert den erfolgreichen Meister des Gegenwärtigen das zerschlagene Porzellan von gestern; was scheren ihn seine anti-polnischen Rüpeleien am Anfang des Jahres - der Erfolg löscht die Scham über das zynische Spiel mit den Ängsten der Polen und den noch immer ungestillten Ansprüchen der polnischen Zwangsarbeiter.
Kohl ist eine wahrhaft bedrückende Verkörperung der List der Vernunft. Sein damaliges Spiel mit der Oder-Neiße-Grenze hat dankenswerterweise provoziert, daß das Mißtrauen und die Interventionsbereitschaft der europäischen Nachbarn angesichts der deutschen Vereinigung nachgerade sanktioniert worden ist. In Wahrheit aber stand die polnische Westgrenze nie zur Disposition. Kohls Spiel mit ihr war ein Versuch nationalistischer Demagogie, eine Inszenierung nachbarlicher Mißgunst und Feindschaft. Für dieses Spiel haben sich die Deutschen offensichtlich nicht interessiert. Aber dieses Spiel brachte Kohl doch noch den Vorteil, daß er nun für die Einheit dramatisch etwas opfern kann, was nicht zur Disposition steht.
Wenn jetzt also auch mit dem Kanzler-Wort die Gültigkeit dieser Nachkriegsgrenze geweiht wird, dann kann man nur halb aufatmen. Denn Kohls Grenzrhetorik hat eine große Chance zerstört: Diese Grenze hätte zum Exempel der Völkerversöhnung werden können. Indem er jetzt ex catedra die Anerkennung der Grenze zum außenpolitischen Preis für die Einheit erklärt, mißachtet, ja verrät er die politische Reife der meisten Deutschen. Denn die sind aus Schaden einigermaßen klug geworden und setzen gute Nachbarschaft über Grenzfragen.
Klaus Hartung
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