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Alltag und Verzweiflung

Was, wenn alles ganz anders gekommen wäre? Wenn du plötzlich aufwachen würdest in deinem Heimatort, mit deiner Jugendliebe verheiratet und mit einem Kind? Welche Erwartungen und welche Zumutungen erlebt andererseits eine Frau ohne Kind? Darum dreht sich der Debütroman der Hamburger Autorin und Literaturvermittlerin Anne Sauer

Objekt gesellschaftlicher Erwartungen: Nur als Silhouette ist diese Frau, einen Kinderwagen schiebend, erkennbar Foto: Paul Zinken/dpa

Von Marie Dürr

„Was wäre gewesen, wenn?“ Eine Frage, die zu melancholischen Tagträumen verleiten kann und die gedankliche Tür öffnen zu zahllosen Parallelleben. Für die Protagonistin in Anne Sauers Debütroman wird aus dieser Frage mehr als nur ein Gedankenspiel: Sie findet sich eines Tages in einer anderen Version ihres Lebens wieder. In einem Leben nebenan.

„Bücher sind für mich ein Raumöffner“, antwortet die Hamburgerin auf die Frage, was Literatur ihr bedeute. Zum einen öffne sie einen Raum nach außen, für Austausch; zum anderen einen nach innen: wenn es im Kopf zu viel und zu laut werde. Sauer, geboren 1989, ist studierte Buchwissenschaftlerin, ausgebildete Texterin und war einige Jahre in einer Kreativagentur tätig. Heute würden die Bezeichnungen „Literaturvermittlerin und Autorin“ am besten passen, um ihre Tätigkeiten zu beschreiben, sagt sie der taz. Neben dem ­Schreiben empfiehlt und bespricht Sauer tatsächlich seit Jahren bereits Bücher über verschiedene Kanäle: zum einen gemeinsam mit Tina Luz in dem Podcast „Monatslese“ oder ihren eigenen Instagram-Account „fuxbooks“. Zum anderen auch persönlich: im Laden. So war Sauer lange im Team der Buchhandlung Lüders in Hamburg-Eimsbüttel.

In ihrem Roman „Im Leben nebenan“ geht es um Toni. Die 34-Jährige lebt mit ihrem Freund in der Großstadt, arbeitet im Marketing und versucht gerade schwanger zu werden. Doch dann erwacht Toni im Körper und Leben von Antonia, einer Version ihrer selbst: Mit einem Neugeborenen und liiert mit der früheren Jugendliebe lebt sie immer noch in ihrem Heimatdorf. Während Antonia fortan in diesem Leben feststeckt, bleibt auch Tonis eigentlicher Alltag erzählerisch präsent; parallel entfaltet der Roman die Geschichte zweier Lebensentwürfe.

Beim Schreiben hört Anne Sauer gerne Musik, „um herauszufinden, wohin mein Emotionspendel ausschlägt“. Auch Taylor Swifts Album „The Tortured Poets Department“ lief passenderweise während des Entstehungsprozesses. Das verriet Sauer schon 2024 in ihrem Essayband „Look What She Made Us Do“. Darin setzte sich die bekennende Swiftie mit Taylor Swifts Erfolg, dem misogynen Umgang damit und ihrem eigenen Fan-Sein auseinander. Sie zieht dabei auch autobiografische Parallelen: etwa in der Erfahrung, als weiblich gelesene Person nicht ernst genommen zu werden in einer von Männern dominierten Branche.

Anne Sauer: „Im Leben nebenan“. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2025, 272 S., 23 Euro; E-Book 16,99 Euro

Lesungen: Do, 17. 7., 19 Uhr, Hamburg, Buchhandlung Lüders (evtl. Restkarten)

So, 14. 9., 16.30 Uhr, Hohwacht, Genueser Schiff

Do, 11. 12., 19 Uhr, Hannover, Kulturzentrum Pavillon

Ausgangspunkt für den Roman war ein Satz, der es bis in die finale Fassung des Textes schaffte: „Dieses Baby gehört mir nicht.“ Die Vorstellung, plötzlich mit einem Kind auf der Brust aufzuwachen, setzte bei Sauer den Schreib- und Gedankenprozess in Gang. Themen, die sie schon lange in sich trug, wurden greifbarer. „Im Kern geht es für mich um Selbstbestimmung“, sagt sie, „körperliche Zumutbarkeit und die Frage, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein“. Nicht Mutterschaft stehe im Zentrum, sondern die Entscheidungen, die damit verbunden seien, sowie der Blick auf Körper, auf Mütter, auf kinderlose Frauen. Auch Beziehungen spielten eine wichtige Rolle. „Konkret die Frage: Wie verändert sich Liebe, wenn sich die eigene Lebensrichtung verschiebt?”

Antonias Verzweiflung über die plötzliche Mutterschaft wird besonders eindrücklich in Alltagsszenen der Überforderung beschrieben, etwa wenn es heißt, das Baby habe man ihr „einfach wieder angelegt“. Kaiserschnittnarbe und schmerzende Brustwarzen stellt Sauer genauso authentisch dar wie Gedanken, die nicht passen wollen zum gesellschaftlich konstruierten Mythos eines vermeintlich natürlichen Mutterinstinkts, die brechen mit einer unrealistischen Vorstellung von Mutterschaft überhaupt.

„Im Kern geht es für mich um Selbstbestimmung, körperliche Zumutbarkeit und die Frage, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein“

Anne Sauer

Gleichzeitig zeigt Sauer die Zumutungen und die Erschöpfung einer Frau ohne Kind: Die muss sich ständig rechtfertigen, ist mit den beträchtlichen körperlichen und finanziellen Kosten der Reproduktionsmedizin konfrontiert – und hinterfragt dabei, ob der Kinderwunsch, den sie „so bedingungslos zu erfüllen versucht“, wirklich ihr eigener ist.

„Was will ich wirklich?“ Die Autorin Anne Sauer Foto: Tara Wolff

Die „Was wäre, wenn?“-Frage bildet nur den Ausgangspunkt, öffnet den Raum für eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Frage: „Was will ich wirklich?” Die dargestellten Lebensentwürfe werden im Roman nicht bewertet oder gegeneinander ausgespielt, sie stehen nebeneinander. Beide Frauen sind gleichermaßen mit gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert, während Entscheidungen nicht selten über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Beider emotionale und körperliche Arbeit bleibt immer wieder ungesehen, auch seitens ihrer Partner. Sauer erzählt von diesen und vielen weiteren Facetten des Frauseins – so spürbar, dass die Leserin stellenweise am liebsten selbst lachen oder schreien würde.

„Im Leben nebenan“ lässt sich an einem Tag lesen und lässt eine dennoch tagelang nicht los. Anne Sauer selbst sieht den Roman auch als Einladung zu mehr Verständnis und Empathie: „Ich habe das Gefühl, da ist eine unsichtbare Wand zwischen Eltern und Kinderlosen, zwischen Frauen und ihren Partnern. Diese Wand möchte ich transparenter machen.” Eine Anschluss-Leseempfehlung hat die professionelle Literaturvermittlerin auch: „Die Wand” von Marlen Hofhauser; eines ihrer Lieblingsbücher, von dem sich manche Referenz in ihrem eigenen Buch finde.

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