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Alltag statt Kulisse

■ Wenn der Fotograf zu früh abdrückt: „Vorsicht Kamera! – Situationskomik aus alter Zeit“ im Stadtteilarchiv Hamm Von Ingo Böttcher

Private „historische“ Fotografien zeigen in der Regel Menschen, die versuchen, möglichst würdig, feierlich und gut sortiert auszusehen. Bilder von gebügelten Ausgehkleidern und Feiertagsgesichtern der verblichenen Verwandtschaft gelten in Deutschland als genealogische Dokumente ersten Ranges.

Kerstin Rasmußen und Gunnar Wulf vom Stadtteilarchiv Hamm sitzen an einer Quelle für solche nostalgischen Familiendenkmale. Von vielen Menschen aus dem Stadtteil bekommen sie Alben vorgelegt und dürfen sich für ihr öffentliches Archiv aussuchen, was sie begehren.

Jetzt haben sie eine Ausstellung zusammengestellt, die „die lustigen Seiten unserer historischen Fotos“ im Großformat zeigt. Die Anspielung im Titel: „Vorsicht Kamera – Situationskomik aus alter Zeit“ ist etwas irreführend, denn die Sammlung kommt ohne Lachzwang aus.

Da stolpert beispielsweise ein Kind im Sommerkleid, mitten auf der staubigen Süderstraße, gutgelaunt auf den Fotografen zu. Einfach ein schöner Moment, kein Brüller; eher ein Anlaß zum Lächeln. Die Kleinbildkamera, verbreitet seit den 20er Jahren, macht's möglich. Und wer Glück hat, findet – vielleicht mit der freundlichen Hilfe des Stadtteilarchiv-Historikers Michael Braun – unter den Besuchern des Archivs jemanden, der zufällig damals in der Süderstraße gewohnt hat und noch mehr Geschichten zu dem Bild erzählen kann. Die dürften eher melancholisch sein: Das alte Hamm wurde in den Bombennächten der „Operation Gomorrha“ 1943 zerstört.

Die Bilder zeigen das Lustige aus dem Alltags- und Feiertagsleben in Hamm: kuriose Hut- und Sportmode, weihnachtliche Bierseligkeit in der Guten Stube, fünfzig Bäckermeister auf einem Haufen – skurrile Dinge eben. Manche der Fotos sind klassische Schnappschüsse, bei anderen hat der Fotograf – möglicherweise absichtlich – zu früh auf den Auslöser gedrückt: Statt streng zeremoniell fürs Konfirmationsfoto dreinzuschauen, versuchen drei junge Frauen in Weiß und ein distinguierter Herr mit Schnurrbart aufgeregt, einen unsichtbaren Fünften herbeizuwinken.

Ein anderes Bild aus dieser Kategorie: Uniformierte Marinesoldaten und Fußballspielerinnen in „Spielkleidung“ sind für einen Straßenfotografen aus einer Ecckneipe gekommen und stellen sich gerade heftig debattierend in Positur. Der Moment vor der Aufnahme, als noch nichts würdig und gut sortiert war, kommt ins Bild – Alltag statt Kulisse. Das machen die Fotografien in der Hammer Ausstellung sichtbar.

Ingo Böttcher

„Vorsicht Kamera – Situationskomik aus alter Zeit“, bis 29. Februar: Dienstag 10 bis 12 Uhr und 17 bis 19 Uhr, Donnerstag 10 bis 12 Uhr im Stadtteilarchiv Hamm, Carl-Petersen-Straße 76

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