Alltag junger Flüchtlinge: Diese erdrosselnde Langeweile
Unser Autor unterrichtet Flüchtlinge. Einst war er selbst einer. Zwei Jahre nach Merkels „Wir schaffen das“ zieht er Bilanz: alles wie in den 90ern.
Ich kam 1994 als Kriegsflüchtling aus Bosnien, doch seit diese neue „Flüchtlingskrise“ das Bewusstsein der Deutschen beherrscht, bekomme ich immer wieder zu hören, ich sei kein richtiger Flüchtling.
Gesagt wird mir das von Arbeitskolleginnen und -kollegen, von Bekannten und sogar von Taxifahrern oder Handwerkern. Übrigens geht in keinem der Fälle der Dialog von mir aus, mein Akzent gibt ihm Anlass.
Man erklärt mir folgendermaßen, wieso ich kein „richtiger Flüchtling“ sei: Ich würde aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen, und das ehemalige Jugoslawien gehöre ganz klar zu Europa. Für meine Gesprächspartner gelten als „richtige Flüchtlinge“ all jene, die nicht aus Europa kämen, sondern fremde Kulturen mitbrächten – das sei schließlich etwas ganz anderes. Nach dieser Erklärung werde ich immer angestarrt, als sollte ich mich über ein Kompliment freuen. Man hat mich schließlich zum Europäer geadelt.
Ich verzichte in der Regel darauf zu erklären, wie wenig das Gesagte stimmt: Wäre Jugoslawien für Deutsche so selbstverständlich Europa, würden sie es nicht mit ihren Balkan-Partys und ihrer Liebe zu Kusturica-Filmen andauernd exotisieren. Wären meine Eltern, mein Bruder und ich selbstverständlich willkommene Europäer gewesen, hätte uns die Aussicht auf gewisse Amtsbesuche nicht in lähmende Panik versetzt.
Ein Akne-eitriger Alptraum
Und was fremde Kulturen angeht: Ich hatte vor meiner Ankunft in Deutschland jahrelang an Indoktrinierungsprozessen eines sozialistischen Regimes, das Deutschland brennend verachtete, derart begeistert teilgenommen, dass mir sein Scheitern tragisch und überraschend erschien.
geb. 1981 in Sarajevo. Schriftsteller und Berufsschullehrer in Kaiserslautern. Sein Debütroman "Tierchen Unlimited" erschien 2017 bei Kiepenheuer & Witsch.
Die kapitalistischen Verlockungen der Bundesrepublik – damit meine ich vor allem die Möglichkeit, nach der Schule Super Nintendo im Kaufhof spielen zu können – bekamen mich natürlich schon am ersten Schultag rum, aber trotzdem: Von der Anlage her war ich der Akne-eitrige Alptraum aller Integrationsskeptiker.
Auf all diese Erklärungen verzichte ich, weil jene, mit denen ich spreche, sie gar nicht hören wollen. Sie wollen eigentlich überhaupt nicht mit mir sprechen. Vielmehr versuchen sie, mich abzuzirkeln – ich erscheine ihnen harmlos und soll mit einem Scheinkompliment ruhiggestellt werden, damit ich mich nach Möglichkeit nicht mit jenen solidarisiere, die sie fürchten und die heute das Gleiche durchmachen wie ich in den neunziger Jahren.
Manchmal tun mir meine Gesprächspartner leid – ihre Furcht vor Menschen wie mir hat sie regelrecht unterworfen. Und ich versuche sie ihnen zu nehmen. Ich erkläre, dass alle geflüchteten Schüler, denen ich in meinem Alltag als Lehrer begegne, ihre Abende nicht in umstürzlerischem Eifer, sondern in erdrosselnder Langeweile verbringen, auf Entscheidungen von Ämtern wartend. Und das galt auch für mich. Das hauptsächliche Gefühl eines Flüchtlings ist nicht Zorn, sondern schrecklicher Verdruss.
Asymmetrische Machtverhältnisse
„Alles, wirklich alles an der heutigen Situation der Flüchtlinge in Deutschland ist so, wie es schon immer war!“, sage ich beherzt. Auf diese Antwort hin setzen meine ohnehin besorgten Gesprächspartner Masken geradezu ekstatischer Besorgnis auf: Wie es mit denen an der Schule klappe?
Obwohl besorgte Deutsche sowohl im Alltag wie im Erinnern Schulen und Lehrkräften nur selten ohne Groll und Verachtung begegnen, werden sie im Gespräch über geflüchtete Schüler auf einmal ganz weich vor Mitgefühl und Solidarität mit der alten Institution.
Ich habe immer noch nicht herausgefunden, ob das bloß eine Nummer ist oder ob ihre Furcht vor Muslimen wirklich schwerer wiegt als ihr Hass auf einen Berufsstand, der in den Sommerferien nicht arbeitet, und einen Ort, der ihrer Meinung nach gefährliche Lügen (Literatur, Ethik, Grundgesetz, Menschenrechte usw.) lehrt.
Und dennoch ist die Frage, wie die Beschulung eines traumatisierten Jugendlichen mit Fluchterfahrung klappen soll, gerechtfertigt. Schulen sind Orte asymmetrischer Machtverhältnisse, an denen von jungen Menschen ein Ausmaß an Unterordnung gefordert wird, das ihnen nach der Schule nicht wieder begegnen wird. Wie sollen sich Schüler mit Traumata in ein Klima einfügen, das selbst Schüler ohne Traumata herausfordernd finden?
Verletzungen der Ehre
In meinem Endzeugnis der neunten Klasse stand, ich verfüge über eine gering ausgebildete Impulskontrolle und hohe Aggressivität. Beides stimmte. Ich verbrachte die Mittelstufenjahre als Gefangener von Verhaltensweisen, die aus meinem Kriegstrauma sprossen:
Ich stritt, tobte und prügelte mich ungehemmt. Was auch immer mich dazu drängte, Beiläufigkeiten als grobe Verletzungen meiner Ehre zu betrachten, besaß die Macht, sich mit Leichtigkeit über meine Versuche der Selbstkontrolle hinwegzusetzen. Ich begann jeden Tag mit dem Vorsatz, Ärger zu vermeiden – und scheiterte.
Die Ergebnisse dieses Scheiterns spannten vom Tragikomischen (einmal brach ich in Schreitränen aus, als ich im Basketball ausgewechselt wurde) bis zum Furchtbaren (im Rahmen einer Schulfahrt nach Nürnberg prügelte ich mich mit dem Lehrer eines Gymnasiums aus Frankfurt an der Oder).
Keiner der geflüchteten Schüler, welche die Schule besuchen, an der ich arbeite, verhält sich auch nur annähernd so spektakulär wie ich einst. Für sie gilt aber ebenso, dass die Schule der zentrale Ort ihrer Dekompression ist – und der erste Ort der Partizipation in der neuen Umgebung. Auch für sie sind Lehrer (in unterschiedlichem Ausmaß überforderte) Begleiter innerer Stabilisierungsprozesse.
Seit den neunziger Jahren hat sich auch an der Eingliederung geflüchteter Kinder ins deutsche Schulwesen wenig verändert: Es gibt mehr Sprachkurse als damals, doch der Übergang in den Regelunterricht ist komplex geblieben. Der Spracherwerb verläuft von Kind zu Kind unterschiedlich schnell, bei manchen ist er linear, bei anderen sprunghaft. Dennoch möchte man Kinder bei Gleichaltrigen unterbringen.
Unverändert bleibt auch, dass diese die neuen Mitschüler manchmal mit bösem Argwohn erwarten. Als ich 2015 zum ersten Mal einen jungen Flüchtling in meine Klasse einführen sollte, war ich von der Intensität der Abgrenzung durch einzelne deutsche Schüler wenig überrascht; sie war mir aus meiner Jugend bekannt.
Pogromgeiler Mob
Meine Familie hatte das Pech, ausgerechnet nach Mannheim zu kommen, wo im Mai 1992, genau zwischen Hoyerswerda und Rostock, ein Mob von Hunderten Pogromgeilen im Viertel Schönau über Tage die dortige Flüchtlingsunterkunft belagert hatte. Sie waren fälschlicherweise überzeugt gewesen, einer ihrer Bewohner hätte eine Sechzehnjährige vergewaltigt.
Es war daher traditionsgemäß, dass es unter meinen Mitschülern auch jene gab, die Flüchtlinge hassten und ein Bedürfnis hatten, dies zu zeigen. Die weite Mehrheit der Deutschen, denen ich begegnete, war jedoch mitfühlend und solidarisch. Dieser weiten Mehrheit verdanke ich nahezu alles.
Ähnlich verhielt es sich mit meiner Klasse und dem Flüchtlingsjungen, der zu ihr hinzustieß; die Hartherzigen wurden schnell verdrängt. Sie durften aber zuletzt lachen, denn der junge Mann wurde sechs Wochen nach seinem Eintritt in die Klasse abgeschoben. Einige Schüler, die sich in dieser Zeit mit ihm angefreundet hatten, skypen regelmäßig mit ihm.
Als vieles darauf hindeutete, dass meine Familie und ich 1998 abgeschoben werden sollten, tauschte auch ich damals E-Mail-Adressen mit Klassenkameradinnen und -Kameraden. Alles beim Alten.
In letzter Zeit liest man immer wieder, Geschichte wiederhole sich nicht, sie reime sich vielmehr. Ich vermute, das soll weise klingen, aber es überzeugt mich nicht. Vielleicht kommt es ja auf die Geschichte an. Falls ich aber falsch liege und sie sich nicht wiederholt, sondern tatsächlich bloß reimt, so finde ich, dass es im besten Fall ein Reim dieser Art ist:
Als ich kam, waren nicht alle weltoffen
Doch egal, heute steht mir die Welt offen.
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