: Alles zerfällt
Hier ein Herz, dort eine kleine Hand: Die „Three Atmospheric Studies“ der Forsythe Company, in Berlin erstmals vollständig aufgeführt, folgen der Spur gewaltsamer Eingriffe und Erschütterungen
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Seit 2.000 Jahren scheint die Menschheit nicht besonders voranzukommen. Der Choreograf William Forsythe stellt diese These in seinem Stück „Three Atmospheric Studies“ auf, das Bilder des Krieges aus verschiedenen Zeithorizonten und unterschiedlichen Perspektiven der Wahrnehmung beschreibt. In jedem der drei „Studies“ gibt es zwar eine Mutter, die um ihren Sohn fürchtet oder trauert, dessen Geschichte sich nie ganz klären lässt; mal wurde er verhaftet, mal ist er Opfer einer Exekution oder einer Bombardierung. Ebenso ändert sich ständig, wo sich das abspielt, durch die Referenzen in der Sprache der Körper und in Texten: mal ist ein aktueller Kriegsschauplatz die Szene, dann wieder befindet man sich eher in einem mittelalterlichen Gemälde, das biblischen Zeiten gilt. Dennoch bedeuten die „Three Atmospheric Studies“ keine Flucht aus der politischen Verantwortung der Gegenwart in eine ahistorische Beschwörung ewiger Schicksale oder mythischer Konstanten. Im Gegenteil: Selten sitzen die Akzente im Theater über Gewalt und Erschütterung so treffsicher.
Die zynisch herablassende Stimme eines Militärstrategen, der den fast katatonisch erstarrten Opfern eines Bombenangriffs auf den Marktplatz einer Stadt die Notwendigkeit des Krieges und das nicht persönliche Gemeinte des Angriffs erklärt, legt sich in der Berliner Aufführung über den letzten Teil des Stücks. „Manchmal, M’am, müssen wir eben ein bisschen aufräumen“ und „Dinge zerfallen, das ist der Lauf der Welt“. Es ist die Stimme eines Mannes, dessen rhetorisch eingeschliffene, unverbindliche Gesten dazu der Körper einer Frau, der Tänzerin Dana Caspersen, vollzieht. Er unterschiebt auch dem Titel des Stücks eine neue Bedeutung: „Wir haben drei atmosphärische Studien in Auftrag gegeben und ich kann sie beruhigen, es gibt keinen Grund für Alarm.“ Nach den vorausgegangenen Bildern aber weiß man, dass solche Studien ihre eigenen Ziele erzeugen.
Ein Bildbeschreiber, den man schon aus den vorhergehenden Teilen kennt, geht derweil zwischen den verstreuten Gruppen der Tänzer umher und listet einen Katalog der Zerstörung auf: ein zermatschter Doughnut, ein geschmolzener Puppenkopf, eine menschliche Hand, ein Herz, noch eine Hand, aber kleiner. Einige der Tänzer sind noch in der Haltung des Schocks nach einem Angriff gefangen, endlos scheint sich jede Sekunde in ihnen zu dehnen und der Kontakt zur Außenwelt gerissen. Andere bewegen sich und suchen Plätze zum Sitzen oder Liegen, als wäre keinem Fußbreit Boden mehr zu trauen, dass er trägt. Naturalistisch oder illustrativ ist diese Beschreibung des Schreckens nie; die Formen sind physisch präzise, deutlich und zugleich verfremdet.
Das gelingt durch die unterschiedlichen Formen der Übersetzung von Bildern, der Transformation von zweidimensionalem Bildmaterial in körperliche Aktionen, mit der die Forsythe-Company in allen drei „Atmospheric Studies“ arbeitet. Haltungen werden von innen und außen nachvollzogen, fremde Gesten aufgenommen oder ihre Konturen von außen nachgezeichnet. Den Weg durch das Bild, durch die Zeichnung, den Schatten und die Schrift zur Generierung von Bewegung ist die Forsythe Company auch in den anderen Stücken dieser Spielzeit, „You made me a monster“ (Uraufführung auf der Biennale in Venedig) und „Human Writes“ (UA in Zürich), gegangen. Und jedes Mal fanden sie dadurch zu einem neuen Blick auf einen emotional sehr berührenden Kern, als wäre es tatsächlich möglich, Gefühle aus dem Körper heraus zu nehmen und vor Augen zu stellen wie ein anatomisches Präparat. Es ist ein gleichzeitig sachlicher und verfremdeter Blick, der dann in ungewohnte Nähe zu den inneren Erregungen vorrücken kann.
Seit Sommer 2005 ist die Forsythe Company als GmbH selbstständig, gefördert von den Städten Frankfurt, Dresden, den Ländern Hessen und Sachsen und einem Förderverein. Bisher scheint ihr die neue ökonomische Struktur gut zu bekommen, denn ungeheuer produktiv bringen sie ein Werk nach dem anderen heraus. Der Formenkanon weitet sich, neben dem Bühnenraum werden immer öfter Installationen bespielt, die den Zuschauer selbst zu einem durch das Bild wandernden Element machen. Die Aufführungsorte sind weit gestreut und die Produktionen verändern sich, was auch das Gefühl erzeugt, jedes Mal nur einen Teil eines ständig wachsenden Ganzen zu packen zu kriegen: Teile von „Three Atmospheric Studies“ kamen zunächst in Frankfurt als „Study III“ und „Clouds after Cranach“ (vgl. taz 29. 11. 05) heraus, bevor sie jetzt im Haus der Berliner Festspiele neu zusammengefügt wurden. Das Überraschende dabei ist, dass jedes Kapitel auch verändert, was man im vorherigen gesehen zu haben glaubt. In diesem Akt der Bewusstmachung von Erkenntnis als ständigen Prozess der Interpretation liegt die Stärke dieses choreografischen Projekts.